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mabuerele

Posted on 13.10.2021

„...Herrschaftszeiten, was seid ihr denn für eine Generation? Wir wussten uns auch zu helfen, und das waren keine einfachen Zeiten! Ihr habt heute viel mehr Möglichkeiten...“ Diese Worte sagt Lotte zu ihrem hundertsten Geburtstag zu Hanna. Drei Generationen trennen die beiden Frauen. Nun nimmt Lotte Hanna auf einen Spaziergang mit und erzählt ihr aus ihrem Leben. Die Autorin hat einen abwechslungsreichen historischen Roman geschrieben. Die Geschichte hat mich schnell in ihren Bann gezogen. Der Schriftstil ist ausgereift. Er bringt die Probleme der Zeit sehr gut auf den Punkt. Wir schreiben das Jahr 1938. Lotte hat ihr Heimatdorf Traunstein verlassen und kommt nach Wien. Dort wohnt sie anfangs bei ihrer Freundin Gisi. Sie bekommt eine Anstellung in einem Kaffeehaus. Die Personen werden gut charakterisiert. Trotzdem fällt es schwer, Zugang zu Lotte zu finden. Sie ist arbeitsam und steckt die Gehässigkeiten ihrer Chefin weg. Sicher bringt die Umstellung vom Dorf auf die Großstadt Probleme mit sich. Dass es Lotte aber schafft, die Politik völlig auszublenden, obwohl sie selbst belästigt wurde, kann ich nur schwer nachvollziehen. Lottes Gedanken sind in der Regel auf ein Thema fixiert: Sie möchte nie wieder hungern müssen. „...Jedes Wort konnte ins Gefängnis führen – oder Schlimmeres, was sich Lotte nicht einmal auszumalen wagte. Dann lieber den Alltag bewältigen, die Arbeit brav erledigen, wie man es von ihr erwartete, sodass Frau Schwarz mit ihr weiterhin zufrieden war...“ In all dem Grau erlebt Lotte eine romantische Szene, als sie sich in Erich, den Sohn ihrer Chefin, verliebt. Er verwöhnt sie mit Sachertorte. Doch bald wird er eingezogen. Als er erfährt, dass Lotte schwanger ist, organisiert eine schnelle Hochzeit. Bald darauf kommt die Nachricht, dass er vermisst wird. Sehr detailliert und beeindruckend wird beschrieben, was der Krieg für die Frauen bedeutet hat. Wieder wird das Essen knapp. An Schlaf ist nicht zu denken, wenn Bombenalarm droht. Die Luftschutzkeller hinterlassen Beklemmung. „...Diese endlose Kälte! Sie wusste nicht mehr, was schlimmer war, das Rumoren in den Eingeweiden oder das ewige Frieren bis auf die Knochen...“ Und dann muss Lotte feststellen, dass ihre Freundin Gisi von jetzt auf gleich verschwunden ist. Keiner weiß, warum und wohin. Gut gefallen hat mir, dass die Protagonisten vielschichtig gezeichnet wurden. Manche weisen überraschend positive Charakterzüge auf. Das Kaffeehaus übersteht den Krieg. Was aber soll man anbieten? Lebensmittel sind im besetzten Wien nicht zu bekommen. Und Frauen sollen sich möglichst von der Straße fern halten. Er grassiert die Angst vor den Vergewaltigungen. Der Schleichhandel blüht. „..So lief es derzeit immer, denn jeder kannte wen, der wen kannte, wo man das gerade Benötigte irgendwie eintauschen konnte...“ Mehrmals fährt Lotte in ihr Heimatdorf, um dort Waren einzutauschen. Dort trifft sie Robert, einen amerikanischen Soldaten. Mittlerweile kennt sie das beliebteste Zahlungsmittel: die Zigaretten der Amerikaner. Als kurz nach dem Krieg die Schwiegermutter stirbt, übernimmt Lotte das Kaffeehaus. Immer noch wartet sie auf Erichs Rückkehr. Sehr eindringlich wird die Befindlichkeit der Menschen deutlich. „...Gisi hatte über das Erlebte sprechen wollen, sonst niemand. Schweigen lag über der Diktatur, dem Krieg und all den Toten….“ Die Autorin versteht es, mir als Leser Lottes innere Zerrissenheit nahe zu bringen. Stunden der Leichtigkeit werden abgelöst durch Zeiten der Hoffnungslosigkeit. Der Krieg hat nicht nur die Männer verändert. Er hat bei allen Spuren hinterlassen. Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Es zeigt eine andere Sicht auf Krieg und Nachkriegszeit – die Sicht der Frauen.

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