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Entscheidungen müssen gefällt werden. Das ist vielleicht der größte gemeinsame Nenner, den die unterschiedlichen Texte des Erzählbandes „In neuem Licht“ haben. „Romanminiaturen“ nennen Tanja Schwarz und ihr Verlag die Texte und mir gefällt dieser Begriff sehr gut, er impliziert für mich einen stärkeren inneren Zusammenhang der versammelten Texte als bei einer reinen Kurzgeschichtensammlung. Immer sind Frauen im Zentrum des Geschehens, sie sind die Dreh- und Angelpunkte der Geschichten und vor allem sind sie meist die Erzählerinnen. So zum Beispiel bei der Miniatur „Lockdown“, bei der die namenlose Erzählerin und ihr Mann Ron gemeinsam versuchen, den Sohnemann Kian durch die harte Zeit der sozialen Einschränkungen und der Homeschool zu lotsen. Dieser ist nur bedingt willens, auf die Vorschläge und Maßnahmen der Eltern einzugehen. Die Wege der Kommunikation sind neue, sozusagen Kommunikation 2.0, denn die Mutter darf die Sohnemann-Räumlichkeiten nicht mehr betreten, stellt Essen auf einem Tablet vor die Tür. Das höchste der Gefühle sind kurze WhatsApp-Nachrichten: „danke die biolimo kannst du wieder kaufen soße nächstes mal ohne zwiebeln und paprika ok?“ Ich habe Tränen gelacht, als ich das las – wobei es nicht nur Tränen des Humors waren, es waren auch ein bisschen Tränen des Selbstmitleids und der Wut: Auch bei uns hat diese Form der Kommunikation Einzug gehalten, Kind sitzt eine Etage über mir, wir beide sind zu faul, aufzustehen, man schickt sich eine WhatsApp und gut ist … manchmal vereinfacht dieser neutrale Weg auch die kurze Unterhaltung, keine ungehaltene Stimmlage, die einen schon wieder zur Weißglut bringen könnte, keine Doppeldeutigkeiten bei der Wortwahl, lediglich ein paar nüchterne getippte Worte. Die Hilflosigkeit der Eltern ob des Erwachsenwerdens ihres Sohnes inmitten eines pandemischen Ausnahmezustands ist förmlich greifbar. Alles, wirklich alles, was hier beschrieben wird, kenne ich aus eigener Erfahrung: „Rausgehen, das ist das dauernde, leidige Thema. Ich weiß, was du willst, gibt Kian zurück, wenn ich vor seiner Tür in einer bestimmten Tonart seinen Namen sage. Auf der ganzen Welt sagen sie, man soll zu Hause bleiben. Nur du nervst mich den ganzen Tag: Geh raus, geh raus. Was ist nicht normal bei dir?“ oder auch: „Ron hat verschiedene Heim-Sportgeräte mitgebracht. Kian hat sie hinter seine Tür mitgenommen. Hanteln, Springseil, Gummibänder. Ich habe keine Vorstellung, was in dem Zimmer geschieht.“ Genau dieses Gefühl, keine Ahnung, keine Vorstellung zu haben, was gerade beim eigenen Kind im Kopf, in der Seele, im Körper abläuft, macht uns Eltern hilflos. Das ist natürlich normal und keine Neuerung durch Corona. Neu war nur, dass sich während der diversen Lockdown-Phasen die soziale Abgeschiedenheit und der Mangel an Ablenkung auch uns Eltern ans Zuhause kettete, sodass dieser Zustand der selbstgewählten Abgeschiedenheit der pubertierenden Kinder noch mehr ins Auge stach. Türe knallt ins Schloss, Klappe zu, Affe tot. Tanja Schwarz beoachtet genau und gießt ihre Momentaufnahmen in präzise, verknappte Sprache. Hier sind wenig Füllwörter zu finden. Jeder Satz sitzt, hat eine Aufgabe, transportiert eine bestimmte Stimmung. Nicht immer ist das so amüsant, wie bei eben erwähnter Romanminiatur. Oft sitzt man beklommen da, wenn man liest, wovon die Autorin so messerscharf treffend schreibt, manchmal auch mit einem Kloß im Hals. So zum Beispiel bei der Geschichte „Cover me“, die von einer alleinerziehenden Mutter erzählt, der alles über den Kopf zu wachsen droht, die ihre Tochter Lynn unendlich liebt, aber trotzdem ob all der realen Probleme um sie herum nicht entspannt sein kann. Geldsorgen, die Zeit rennt, der kleine, wenig bezahlte Job will vorbereitet sein, der Ex-Partner hält sich nicht an die ausgemachten Tage, an denen er eigentlich für das Töchterchen zuständig ist. Je mehr Gedanken der Ich-Erzählerin durch den Kopf schießen, desto länger werden die Endlossätze. Atemlos stürze ich als Leserin dem Punkt hinterher, über eine halbe Seite – am Ende empfinde ich fast körperlich, wie rastlos die überforderte Mutter sich gerade fühlt. Nicht hoffnungslos, nur sehr realitätsnah, schonungslos ehrlich, ohne Filter und Korrekturmodus. Schwarz lässt uns in die Seelenzustände der Frauen blicken. Sie tut das unaufgeregt, sachlich, aber nie urteilend. Einmal, in „Élysée“, nimmt ein Mann die Rolle des Erzählers ein, Carl ist sein Name. Die Frau an seiner Seite ist gleichzeitig stark und schwach – sie hat eine Brustkrebserkrankung überstanden und moderiert nun eine Charity-Gala, bei der für andere Betroffene Geld gesammelt werden soll. Leute, die nicht so priviligiert leben wie Carl und seine Frau Dodo. Doch auf der abendlichen Fahrt dorthin läuft alles anders als geplant: Stau, Polizei, Carls Augen, die immer schlechter werden und von denen er nun weiß, dass sie nie wieder besser werden, denn soeben wurde eine Makuladegeneration diagnostiziert. Dodo fährt nicht gut, aber Carl kann nicht übernehmen, auch wenn er gerne würde – doch da, gerade, als sie sich durch den Großstadtverkehr zur Primetime kämpfen, der ständig ins Stocken gerät, reißt plötzlich jemand die hintere Seitentür auf und kauert sich in den Fußraum. Carl wird von dem Fremden angewiesen, die Tür zu schließen. Was ist das? Eine Entführung? Ein Überfall? Mitnichten – es ist ein hilfsbedürftiger Mensch, der auf der Flucht ist. Als Dodo einen Schwächeanfall angesichts all der Unwägbarkeiten bekommt, übernimmt der Fremde das Steuer und fährt weiter. Eine ganz andere Geschichte, die einen so anderen Tonfall hat als die anderen hier versammelten. Eine bunte Vielfalt an interessanten Charakteren lernen die Leser*innen kennen, alle werden sie in Momenten beobachtet, in denen sie es nicht leicht haben. Schwarz skizziert Kurzportraits über Menschen, deren Lebenssituation schwierig ist, die an einem Punkt angekommen sind, an dem sie schnell entscheiden müssen, wie sie nun handeln wollen. Diese Entscheidungen nehmen großen Einfluss darauf, wie es weitergehen wird mit ihnen und ihren Familien. In der ersten Geschichte muss eine erwachsene Frau entscheiden, was sie mit ihrer Mutter macht, die in einer Alters-Psychose feststeckt. Die Ärzte raten zur Elektrokrampftherapie – die Enkelin ist vehement dagegen. Was nun? Alles, was hier passiert ist nicht banal, es ist für die/den jeweiligen Protagonisten existentiell – dies bringt Tanja Schwarz durch ihre verknappte Sprache bestens zum Ausdruck. Prägnant, aber nicht emotionslos. Keine leichte Lektüre – manche Texte sind harte Brocken, Geschichten, an denen man zu knabbern hat, die einen nicht loslassen. Nicht alle werden zu Ende erzählt, wir begleiten die Hauptfiguren nur einen kurzen Moment. Doch jede einzelne vermittelt Trost, Mut, vielleicht schon allein durch die Erkenntnis, dass man nicht alleine dasteht mit all diesen Problemen, von denen man manche auch aus eigener Erfahrung kennt. Mitten in einer Welt von Instagram, Tiktok, Facebook und Twitter, in der sich jeder durch Fotos oder Worte so ideal wie möglich präsentiert, ist es eine wahre Wohltat diese geerdeten, ungeschönten und realistischen Texte zu lesen. Denn nur so ist das wahre Leben: Es gibt Probleme, denen man sich stellen muss, Höhen und Tiefen, die man durchleben muss, Krisen, die man bewältigen muss. Alles ohne Filter und Weichzeichner. Klare Leseempfehlung!