letterrausch
Es gibt Orte, die rufen bei uns sofort ganz bestimmte Gefühle hervor. Leuchttürme zum Beispiel: Auf der einen Seite sind sie ein Symbol der Seefahrt, die wiederum an Freiheit und Abenteuer denken lässt. Auf der andere Seite sind sie sehr einsame, geradezu lebensfremde Orte. Beklemmend durch die beengten Lebensverhältnisse, ein wenig gruselig durch die Abgeschiedenheit. Heldenhaft die Männer, die dort Tag und Nacht ausharren, um vorbeifahrenden Schiffen eine sichere Durchfahrt zu gewähren. Ein sehr spannendes Konglomerat an Zuschreibungen also, und Autorin Emma Stonex macht sie sich alle in ihrem Roman „Die Leuchtturmwärter“ zunutze. Zur Freude des Lesers, den bei der Lektüre ein Whodunnit, eine Charakterstudie und eine Geistergeschichte erwarten. Unter anderem. Vor allem ist „Die Leuchtturmwärter“ jedoch eine perfekt durchkomponierte Geschichte mit exzellent gezeichneten Charakteren und einem spannenden Rätsel im Zentrum, das den Leser mit Leichtigkeit bei der Stange hält. Inspiriert wurde die Geschichte vom tatsächlichen Verschwinden dreier Leuchtturmwärter im Jahr 1900 vom schottischen Flannan Isles Leuchtturm. Stonex verlegt die Handlung ins Jahr 1972 nach Cornwall, auf den fiktiven Leuchtturm „Maiden Rock“, der mitten auf hoher See steht. Keine beschauliche, kleine Insel mit Schafen und Leuchtturm, keine hübsche Küste – nein. Ein Turm, der aus dem Meer ragt, mehrere Meilen vom Festland entfernt. Schon das Anlanden ist eine gefährliche Aktion, die sich auch mal um Tage verzögern kann, weil es zu stürmisch ist. In dieser lebensfeindlichen Umgebung tun drei Männer Dienst: Der Oberwärter Arthur Black, Leuchtturmwärter aus Passion, mit dreißig Dienstjahren auf dem Buckel. Wärter Bill Walker, der das Meer und die Leuchttürme hasst. Und der Junior Vincent Bourne, ein junger Ex-Knacki, der sich von dieser Anstellung eine zweite Chance erhofft. Alle drei sind Weihnachten 1972 verschwunden, als die Ablösung eintrifft. Die Tür ist von innen verschlossen, die Uhren sind auf Viertel vor neun stehen gelieben, der Tisch ist für zwei gedeckt. Na, verursacht das schon einen wohligen Schauer? Zwanzig Jahre später will ein Autor das Rätsel lösen und besucht zu diesem Zweck die hinterbliebenen Witwen der Männer. Er führt Interviews, hört sich ihre Theorien an (von „ertrunken“ bis zu „von Piraten entführt“) und dringt so immer tiefer in das Rätsel ein. Genau wie Emma Stonex selbst, denn vom anfangs postulierten Tableau ausgehend entwickelt sie eine soghafte Geschichte, die sich wie eine Matrjoschka immer weiter entblättert und ständig eine neue Sichtweise und Interpretation anbietet. Hat Vincent, der Vorbestrafte, die anderen beiden umgebracht? Ist Arthur Black durchgedreht? Sind doch alle drei ertrunken? Mehr und mehr lernt der Leser die einzelnen Charaktere kennen. Stonex setzt sie in Beziehung zueinander, doch diese Beziehungen bleiben immer dynamisch – was einen großen Teil der Spannung ausmacht. Je mehr man nämlich weiß sowohl über die Männer als auch über ihre Frauen, desto mehr Theorien kann man sich selbst ausmalen. Dazu kommt, dass Emma Stonex immer wieder Zweideutigkeiten, unerhörte Ereignisse und Unerklärliches einbaut. Wie viel davon man für bare Münze nimmt, bleibt dem Leser überlassen. Er darf selbst entscheiden, zu welchem Anteil es sich um eine Geistergeschichte handelt, und ist aufgerufen, eine eigene Grenze zu ziehen, bis zu der er der Geschichte und den einzelnen Figuren glaubt. Ein wunderbares Rätsel, das nicht nur unterhalten will, sondern auf die Autonomie des Lesers setzt. Emma Stonex ist ein rundum überzeugender Roman gelungen. Die Handlung ist spannend, und auch die Charaktere sind vielschichtig und detailliert beschrieben. Stonex gelingt es darüber hinaus, mit vielerlei Erzählstimmen, Zeitsprüngen und dem verschachtelten Aufbau einer Handlung, die bei einem geringeren Autor vermutlich eine simple Murder Mystery gewesen wäre, einen anspruchsvollen, dabei aber wunderbar lesbaren Roman vorzulegen. Ihre schriftstellerische Meisterschaft spricht aus jeder Seite, aus jedem Kapitel. Besonders der Kniff, die interviewten Frauen klingen zu lassen, als führten sie einen inneren Monolog (der Interviewer bleibt stets stumm, er ist bis zum Schluss der Resonanzraum, um den die Handlung kreist) bringt dem Leser diese Charaktere nahe. Sehr nahe. Erschreckend fast, dass „Die Leuchtturmwärter“ ein Debut sein soll: Wie kann man beim ersten Wurf ein technisch so perfektes Produkt abliefern? Das ist mindestens so unheimlich wie der Roman selbst. Da ist es doch beruhigend, in der Verlagsinfo zu lesen, dass Emma Stonex bereits Romane unter Pseudonym veröffentlicht hat. Das relativiert die Sache zum Glück etwas, nimmt aber nichts von der schieren Meisterschaft, mit der „Die Leuchtturmwärter“ aufgebaut ist. Emma Stonex hat einen grandiosen Roman geschrieben: ein unterhaltsamer, spannender Pageturner an einem exotischen Setting, das seine ganz eigene Faszination mitbringt. Mit facettenreichen Charakteren und einem Ende, das Interpretationsspielraum lässt. „Die Leuchtturmwärter“ ist ein Roman für den Herbst und Winter, zum Einkuscheln und Genießen, zum gepflegten Gruseln, zum Eintauchen. Absolute Leseempfehlung!