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gwyn

Posted on 11.9.2021

«An einem Tag im Juli wird er zum Mittagessen nach Hause kommen, es wird heiß sein, der Horizont eine flüssige Linie unter einem unscharfen Himmel.» Die Geschichte zweier Männer, die mit einer ständigen, schmerzlichen Erinnerung an eine Frau leben. Der eine ein Ehemann, der andere sein Sohn, der mit einer Leerstelle fertig werden muss – mit der seiner Mutter, deren Namen er nicht einmal kennt. Eine Vater-Sohn-Geschichte aus Italien, ein literarisches Meisterwerk. Der Roman beginnt ungewöhnlich im Futur, mit der Geburt von Pietro. Ettore erinnert sich an seine Frau, an die Geburt von Pietro, an die Zeit, wie sie sich kennenlernten, an den Urlaub, den er mit dem kleinen Pietro allein in den Bergen verbrachte, an den Tag als sie zurückkehrten und seine Frau verschwunden war. Sie kehre nie wieder zurück, teilt sie mit. Und darum wird auch nie wieder ein Wort über sie verloren. In dieser Familie hat die Namenlose nie existiert. Ettore zieht seinen Sohn allein groß. Seine Eltern sind verstorben, aber er hat ein gutes Verhältnis zu den Schwiegereltern. Aber auch hier wird Pietro kein Wort über seine Mutter hören – nirgendwo gibt es ein Foto von ihr. Fabbrico, ein Provinznest in der Emilia-Romagna der norditalienischen Po-Ebene. Zwischen Feldern und Hügeln ist die Zeit stehengeblieben. Die Jungen sind gegangen, unfertige Häuser stehen am Weg. Roberto Camurri beschreibt ein typisches italienisches Dorfleben: Die alten Männer sitzen in der Bar an der Piazza bei einem Espresso, spielen Karten; es gibt nicht viel zu reden; und Frauen haben hier nichts zu suchen. Ehefrauen machen den Haushalt; ein traditionelles Leben – eigentlich passiert nicht viel über das sich zu reden lohnt. Ettore ist ein schweigsamer Mensch, der allein in der Werkstatt seiner Arbeit nachgeht und seinen Sohn versorgt. Kommunikation und körperliche Nähe zwischen Vater und Sohn ist dünn. Alle Kinder haben eine Mutter, stellt Pietro irgendwann fest. Die Abwesenheit, die Leerstelle, nach der Pietro sich nicht zu fragen traut, steht wie ein Puffer zwischen Vater und Sohn. Die Großeltern Livio und Ester sind sehr liebevolle Menschen. Aber auch hier die Leerstelle, aus dem Familienalbum wurde die Tochter entfernt. Das Fehlen dieser Frau, die Dialogunfähigkeit der Familie lastet auf Pietro. Es raubt ihm die Kraft, sich auf andere Menschen einzulassen, ein inneres Misstrauen begleitet das Kind, den Jugendlichen, den Mann. Was ist damals geschehen? «Pietro hebt den Blick, als suche er nach etwas, nach jemandem, es ist, als suche er in der Vitrine der Bar, zwischen den ausgestellten Hefeteilchen, den Brötchen, den Stücken von Mangoldkuchen, den Tramezzini, als suche er zwischen den Tischbeinen, auf dem falschen Marmorfußboden, zwischen den Stühlen und Kleiderständern neben der Türe, als suche er draußen vor dem Fenster neben ihnen, es ist, als suche er und fände nichts, als er wieder seinen Großvater anschaut und nach einem letzten Blick auf das Foto, auf seine Mutter, die ihn im Arm hält, fragt, was bedeutet Hure?» In einer Schlüsselszene wird Vater und Sohn ihr Dilemma vor Augen gehalten: Sie kaufen einen Welpen, der der Hündin entrissen wird, die an der Kette liegt. Der Hund ist ein Familienmitglied, endlich ein Thema, über das die beiden reden können. Der Junge fragt sich, ob der Schmerz, seine Mutter zu vermissen, je ein Ende haben wird. Was ist damals geschehen? In Italien hat die Mutter im Leben eines Jungen eine hohe Bedeutung. Der «mammismo»-Kult in Italien – das Prinzchen, der verzogene Mamasohn. Pietro bleibt nur ein luftleerer Raum ohne Namen. Sein Großvater zeigt ihm eines Tages ein abgewetztes Foto, das er im Portemonnaie mit sich trägt: Eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm: Pietro und seine Mutter. Und schon ist die Tür wieder geschlossen, das Bild wandert zurück in den Geldbeutel. Kleine Puzzleteile fließen durch Erinnerungen ein. Ettore fährt mit dem ständig hustenden Kleinkind allein in die Berge, weil es dem Jungen guttun soll. Als er zurückkommt, ist seine Frau verschwunden. Er beschreibt Wutausbrüche, Kommunikationslosigkeit, Gewalt, eine abweisende Frau. Gleich am Anfang erfahren wir von der schweren Geburt. Pietro liest im Tagebuch seiner Mutter, ein völlig gefühlloser Text, der nur Fakten aufzählt: der Tag war gut, da Pietro nur 16 Stunden geschrien hat, vermerkt sie. Eine überforderte Mutter? Was ist geschehen? Die Angst vor dem Verlassenwerden – etwas das Vater und Sohn hindert, sich auf Beziehungen einzulassen. Am Ende kommt Licht in die Geschichte, ein Hoffnungsschimmer, eine neue Generation. «Er beobachtete, wie sich die Bärin auf den Rücken legte und der Kleine auf ihr herumkrabbelte, hüpfte und zubiss, er sah die Pfoten zappeln vor dem Himmel, der allmählich blau wurde, im Wind, der nicht nachlassen wollte, im Tosen des Wasserfalls, und sein Herz klopfte zum Zerspringen.» Gleichzeitig beschreibt Roberto Camurri Landschaften mit allen Sinnen, die flirrende Hitze, die knochige Kälte, zarte Winde, die Maisfelder zum Wiegen bringen, die Düfte der Natur, die Farben in vorbeiziehenden Jahreszeiten. Er charakterisiert eine althergebrachte ländliche Bevölkerung, die keine Zukunft hat, nicht in dieser Form; eine Zeit, die zu stehen scheint. Er ist der Meister der langen Sätze, die sich so leicht und fließend lesen, dass dem Leser die Satzlängen nicht auffallen. Gleichzeitig ist er ein Meister der Verdichtung. Verdichtung von Szenen und Dialogen. Ein erzählerisch starker Roman, eine Familiengeschichte, atmosphärisch dicht. Meine Empfehlung! Roberto Camurri, geb. 1982, lebt und arbeitet in Parma. Sein erster Roman, A Misura d’Uomo (2018), war ein Bestseller in Italien und wurde mit dem Premio Opera Prima sowie dem Premio Procida-Elsa Morante ausgezeichnet. Der Name seiner Mutter ist sein zweiter Roman.

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