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gwyn

Posted on 11.9.2021

«Michele erhoffte sich weit draußen einen besseren Fang. Es war gegen neun Uhr vormittags, als einer der Männer auf etwas deutete. Eine Rauchsäule stand am Horizont. War das ein brennendes Schiff? Waren Menschenleben zu retten? ... Tote Fische trieben zu Tausenden umher. ... Unter Donnern und Grollen schoss die Rauchsäule jetzt auf. Eine Aschewolke wurde emporgeblasen, graue Flocken tanzten im grauen Licht.» Ein gut recherchierter historischer Roman, der sich mit den Ereignissen um der Insel Ferdinandea befasst, die im Juli 1831 südlich von Sizilien vor dem Ort Sciacca aus dem Meer auftauchte. Eine Grandame, die eines Tages fauchend aus dem Wasser aufstieg, viel Staub aufwirbelte und nach einem Jahr wieder in den Tiefen verschwand. Als Erstes rückt das Militär an: England, Frankreich, das Königreich Neapel, jeder erhebt Anspruch auf den Steinklotz im Meer. Dichter, Denker und Maler glauben, dass die Muse sie hier küssen wird. Die Bürger von Sciacca hoffen auf Wohlstand durch Tourismus, Naturwissenschaftler sind auf dem Plan das Ereignis zu ergründen. Das Buch hat eine Menge Personen zu Wissenschaft, Literatur-, Kunst- und Philosophie verwoben, die sich um diese Insel gesellen: Alexander von Humboldt und Charles Earl of Grey, Sir Walter Scott und Johann Wolfgang von Goethe, um nur einige zu nennen. Das Ganze ist süffisant geschrieben, in eine nette Geschichte verpackt. «Graham Island hat einen Umfang von etwa fünfzehntausenneunhundert preußischen Fuß oder nullkommasechs preußischen Meilen ...› ‹Nullkommasechsechzwei›, murmelte Humboldt missbilligend. ... Der Gipfel der Insel ist etwa einhundertsiebig bis zweihundert preußische Fuß hoch. Etwa! Etwa! Was waren das für Aussagen?» Eine Sensation! Plötzlich taucht aus dem Meer eine Insel vor Sciacca auf, in der Mitte ein rauchender Berg. Die Einwohner sind erstaunt, entzückt. Schon rennt ein Maler an den Strand, das Ereignis festzuhalten. Die Gräfin Earl-Grey serviert ihren Tee mit der heimischen Bergamotte, träumt von einem Thermalbad als Marketingplatz für ihr Getränk. König Ferdinand II. von Neapel, ein dicker, verfressener Typ, immer ein wenig langsam, politikuninteressiert, ist zu spät im Geschäft. Ein englisches Kriegsschiff liegt bereits vor der Insel, setzt die britische Flagge auf die Spitze. Aber auch die Franzosen stehen bereit. Wem gehört die Insel, die sich im Hoheitsgebiet von Sizilien befindet? Ferdinandea ist der Name – nach dem König, so sagen die Sizilianer; Graham Island nach dem britischen Admiral Graham, so meinen die Briten, denn das Eiland liegt strategisch gut, um Militär zu stationieren, mitten auf dem Knotenpunkt der Handelsrouten, eine idealer Ort um aufzutanken und Handel zu betreiben. Der verstoßene neapolitanische Polizeichef Lerenzo Graziani wird zum französischen Citoyen Laurent Graziani umbenannt, zum Inselgouvaneur erhoben, als Bevollmächtigter, das Neu Vichy zu errichten. Aufstieg und Abstieg, Gerangel um Kompetenzen und Machtgehabe der Nationen. Es gibt viele Träumer, die sich etwas herbeisehnen mit der Insel, Geschäftemacher, die ihren Gewinn im Kopf bereits verbucht haben. Ferdinandea war dieser Lärm anscheinend lästig, so dass sie vorzog, nach einem Jahr unterhalb der Wasseroberfläche in Deckung zu gehen. «Das Leben auf Ferdinandea bestand nicht nur aus Beten ... Schon tummelten sich entlang der Promenade, im Kurhaus, im Café und am Strand Gäste aus vieler Herren Länder: Man konnte das leichte Perlen des Französischen ebenso hören wie das Gaumige des Englischen, die deutsche Sprache kam klar, aber durch das südliche Ambiente gemildert von den Lippen, das Russische stolzierte pfauenhaft und erhaben, ebenso das Spanische, vielleicht nur ein bisschen weniger melodiös als das Idiom von der Moskwa. Das Portugiesische wusste auf liebenswürdige Weise zu nuscheln, und das Italienische blühte im Dreiklang von Sonne, Meer und Wind zu einem strahlenden Belcanto auf.» Eine wahre Geschichte, die humorvoll verpackt schnell zu lesen ist, bildhaft geschrieben. Das mutet zunächst oberflächlich an – ist es aber rein gar nicht. Denn die Fakten sind gut recherchiert, zu einer netten Geschichte verflochten. Im Nachwort wird ein Bonbon gegeben: 1986 hat ein US-Flugzeug die Insel bombardiert, die sich ja unter Wasser befindet. Die Besatzung hatte das Riff für ein feindliches U-Boot gehalten. 2002 vermuteten Geologen, dass die Insel wieder auftauchen könnte. Drum hat ein Sizilianer eine Marmorplatte anfertigen lassen, zwei Zentner schwer. Taucher legten sie auf dem Riff ab, befestigten sie mit Schrauben und Metallhalterungen; und die Inschrift lautete: «Dieser Erdsaum, einst die Insel Ferdinandea, war und wird immer dem sizilianischen Volke zu eigen sein.» Ein halbes Jahr später stellten Taucher fest, die Platte ist zerschlagen worden – eine tektonische Spannung hätte das nicht geschafft. Die Frage stellt sich nun: Wer war es? Engländer, Amerikaner, Franzosen ...? Armin Strohmeyr, Dr. phil., geb. 1966 in Augsburg, lebt als freier Autor und Publizist in Berlin. Er veröffentlichte Biografien u.a. über Klaus und Erika Mann, Annette Kolb und George Sand, außerdem verschiedene Porträtsammlungen, etwa über die Frauen der Brentanos. Darüber hinaus ist er Herausgeber mehrerer Lyrik-Anthologien sowie der Werke des expressionistischen Lyrikers Oskar Schürer und der jüdischen Dichterin Hedwig Lachmann.

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