anne_hahn
"Stell dir vor, du gehst mit einem Schmerz ins Bett und schläfst ein. Und wenn du in der Nacht nicht plötzlich stirbst und auch sonst nichts Außerordentliches geschieht, tritt am nächsten Morgen, sobald du aufwachst, ein kurze Niemandszeit ein, in der sich entscheidet, ob alles vorbei ist und du den Schmerz als Zufall abstempeln und dein Leben weiterführen kannst,..." Seit Mai habe ich Schmerzen. Es fing langsam an und hat sich im August zu ungekannten Höhen entfaltet. Wurzelbehandlungs-Nervenschmerz in der Körpermitte, rund um die Uhr. Die Diagnose lautet Bandscheibenvorfall. Ich habe weitergearbeitet, mich betäubt und gehofft. Und gelesen, wundersamer Weise klappte das, besser als Filmegucken, Freunde treffen, zum Fußball gehen. "... oder ob der Schmerz wieder zu dir findet und den heutigen mit dem vergangenen Tag verbindet (wie bei einer Krankheit). Stell dir jetzt vor, zwischen diesen beiden Tagen sind Jahre vergangen und der Schmerz, der die Verbindung herstellt, ist eigentlich dein Bewusstsein." Es ist eine verschissene Zeit. Ich würde gern ein Jahr verschlafen oder gleich drei Jahre später wieder aufwachen, natürlich, ohne den Schmerz mitzunehmen. Was mich an der Vorstellung der Zeitreise in Barbi Markovićs neuem Roman so begeistert, ist genau dieses Hintersichlassen von allem, was eben (vor drei, vier oder einem Jahr) noch war. Spielte die in Wien lebende Autorin in ihrem Roman Superheldinnen noch mit leicht psychedelischen Verrückungen und Andeutungen auf ihre Belgrader Herkunft, kommt sie jetzt zur Sache. In der Verschissenen Zeit haut sie uns eine postjugoslawische Kindheit im serbischen Hauptstadt-Randbezirk Banovo brdo um die Ohren. Das ist Punk. Das sind die "Allneunziger" (großartige Wortschöpfung Markovićs für die Neunzigerjahre), wie man sie noch nie gelesen hat: Das Geschwisterpaar Vanja und Marko wächst im Neubaugebiet auf, die Mutter kann die Kinder nicht vor dem brutalen und ewig schlecht gelaunten Vater beschützen. Dieser quält vor allem Marko und nervt die Seinen mit Glaubenssätzen. "Er hasste Frauen, weil sie an allem schuld waren, und Roma, weil sie eigenen Parkettböden verbrannten, Kroat*innen, weil sie angefangen hatten, Kommunist*innen, weil die Zeiten jetzt anders waren, Kriegsflüchtlinge, weil sie im Park saßen und Hilfe brauchten etc." Vanja, Marko und ihre Freundin Kasandra haben eine Menge weiterer Probleme im Jahr 1995. Die Bambalić-Zwillinge aus der Siebenten haben gerade gefordert, dass sie ein Medaillon mit einem Krokodilskopf aus der Garage einer berühmten Sängerin besorgen sollen: "Sonst schlachten wir euch. Sonst seid ihr Fotzen." Begleitet von Beschreibungen der schimpfwortgeladenen Wirklichkeit eines Teenagers Mitte der Neunziger begeben wir uns mit den drei Anti-Held*innen zum Haus der berühmten Sängerin - um in eine Zeitreise katapultiert zu werden. Wir landen mit Vanja im Jahr 1999, Belgrad wird bombadiert und auch sonst hat sich einiges verändert... Im Artikel (https://thegap.at/barbi-markovic-die-verschissene-zeit/) wird nicht nur die Entstehung des Roman über ein Interview mit der Autorin beleuchtet, er bietet spannende Spots auf Barbi Marković, in Bild und Text. Mich hat der Roman Die verschissene Zeit nicht nur über eine solche hinweggetragen, bereichert und belustigt (und über den ausgefallenen Kroatien-Urlaub getröstet), sondern wartet noch mit einem Bonus auf: dem Rollenspiel. Was für eine geniale Idee, eine Kindheit im Krieg souverän als Zeitreise zu erzählen - und obendrein ein 70-seitiges Heft zum Rollenspiel mitzuliefern (auf der Verlagsseite finden sich auszudruckende Karten)! Ich werde mir alles bereitlegen und nach der nächsten Bodenliegerunde mit dem Bandscheibenwürfel beginnen, hoffentlich lande ich nicht auf diesem Feld: "Dein Fuß wird von einem Wurm befallen, der vorher die Leiche eines Kriminellen gefressen hat und dir den Keim des Hasses überträgt. Dein Fuß wird böse und hat seine eigenen Ziele. Er will alle töten und kickt um sich. Immer wieder greift dein Fuß deine Freund*innen an. Besserung nicht in Sicht."