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letterrausch

Posted on 31.8.2021

An Colson Whitehead (Jahrgang 1969) kommt man nicht vorbei, wenn man sich mit zeitgenössischer amerikanischer Literatur befasst. Sowohl für seinen wohl bekanntesten Roman „Underground Railroad“ (2017) als auch für „Die Nickel Boys“ (2019) hat er den renommierten Pulitzer Preis erhalten, ein ziemlich seltener Doppelpass, der bisher nicht einmal einer Handvoll Autoren gelungen ist. Der Klappentext zu seinem neuen Roman „Harlem Shuffle“ bezeichnet ihn als eine der „wichtigsten literarischen Stimmen der Gegenwart“ (Zeit Online). Zu recht? Absolut zu recht. Whitehead ist ein ausgezeichneter Erzähler: detailreich, anschaulich, literarisch und trotzdem zugänglich und spannend – das stellt er auch in „Harlem Shuffle“ erneut unter Beweis. Meine Lektüreerfahrung mit Whitehead beschränkt sich (bisher) auf „Die Nickel Boys“, eine geradezu beängstigend ergreifende Geschichte über einen aufstrebenden jungen Schwarzen, der unverschuldet in einer grausamen bis tödlichen Besserungsanstalt landet. Unbewusst hatte ich daher für „Harlem Shuffle“ ähnliche Erwartungen. Es würde um jemanden gehen, der grund- und schuldlos vom amerikanischen Rassismus und vom „System“ zermalmt wird. Doch mit Raymond Carney, dem fast ehrlichen Möbelhändler aus dem Harlem der 60er Jahre erzählt Whitehead die entgegengesetzte Geschichte: Wie man es trotz aller Widrigkeiten doch irgendwie schaffen kann, sich durchzulavieren. Carney hatte keinen einfachen Start: Mutter nicht vorhanden, Vater Kleinkrimineller, der meistenteils abwesend ist. Doch Carney will es auf die ehrlich Art schaffen. Er studiert und eröffnet mit etwas Startkapital einen Laden. Allerdings folgen ihm auch von Anfang an die Gangster und Ganoven. Er verkauft in seinem Geschäft Radios, die „vom Laster gefallen“ sind, bringt Schmuck zweifelhaften Ursprungs zu jüdischen Juwelenhändlern. Wie ein Magnet zieht er zwielichte Gestalten hat, wird in den einen oder anderen „Job“ hineingezogen. Seine anfängliche Motivation ist uramerikanisch: der soziale und wirtschaftliche Aufstieg. Zwar hat er seinen eigenen Laden, doch das Geld für die Miete ist immer knapp, seine Frau ist mit dem zweiten Kind schwanger, sie sollten dringen aus dem schäbigen Loch, in dem sie wohnen, umziehen in eine schönere, hellere Wohnung. Nun bleibt ihm allerdings zur Erfüllung dieses Traums nach eigenem Ermessen von Zeit zu Zeit nur der illegale Weg. Doch er rutscht nie gänzlich ab: Für die Dauer des Romans hat Carney immer zwei Gesichter. Die legale Front seines Möbelgeschäfts und die kleinen (und manchmal nicht so kleinen) illegalen Geschäfte nebenbei. Whitehead macht ein riesiges Panorama in buntem 60er Jahre Cinemascope auf. Schon nach den ersten Seiten ist man völlig abgetaucht in diese fremde Welt. Er beschreibt Harlem, seine Ecken, seine Geschäfte, seine Bewohner und das Lebensgefühl so echt und plastisch, dass man sich diesem Sog kaum entziehen kann. Zusammen mit Carney geht man Straßenzüge entlang, entdeckt Eckkneipen, fährt auch mal ein Fluchtauto. Dazu die Perspektive der handelnden Personen: Wie ist das, wenn einem ein Weißer eine Pistole in die Seite rammt und man genau weiß, einen Polizisten braucht man nicht um Hilfe zu bitten? Wie ist das, wenn ein weißer Cop einen schwarzen Schüler erschießt und das ganze Viertel in gewalttätigen Protesten ertrinkt? Oder wie ist das, wenn die eigenen Schwiegereltern sich viel weißer fühlen als man selbst und einen ihren höheren Lebensstandard ständig spüren lassen. Klar, Whitehead verlangt seinem Publikum auch einiges an Denkleistung ab. Das Personal ist schier unerschöpflich. Da den Überblick zu behalten, erfordert höchste Aufmerksamkeit, vor allem weil die Figuren mit so schillernden Unterweltnamen wie Chink Montague oder Miami Joe oder Cheap Brucie daherkommen. Belohnt wird der Leser jedoch mit einem nahezu perfekten Roman: bis ins Detail durchkomponiert, aufs Genaueste recherchiert, mit Charakteren, die vollwertige Personen sind – keine Abziehbilder und keine Exempel. Colson Whitehead hat immer auch ein Anliegen – den der amerikanischen Kultur zugrundeliegenden Rassismus sichtbar zu machen – aber er tut dies so nonchalant, so apropos und mit einer Geschichte, die einen solchen Sog entwickelt, dass man nie den Eindruck gewinnt, etwas „Schweres“ oder „Anspruchsvolles“ oder gar „Pädagogisches“ zu lesen. In erster Linie ist „Harlem Shuffle“ also ein gutes Buch, aber eben nicht nur das. Es ist kritisch, es erzählt etwas über das alte New York und über ein exotisches Milieu (ich setze an diesem Punkt einfach mal voraus, dass die wenigsten Leser dieses Romans oder dieser Rezension ihren Lebensunterhalt damit verdienen, gestohlene Diamanten zu verticken) und über Probleme, die sich bis heute nicht lösen ließen. Es ist der Finger in der Wunde und eine Liebeserklärung. Wahrlich ein ganz großer Autor.

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