Buchdoktor
Herman Kochs Icherzähler reist 2012 aus den Niederlanden zur Buchmesse nach Turku, um u. a. seinen finnischen Verleger zu treffen. Zu Finnland hat er eine besondere Beziehung, seit er als 18-Jähriger in Nordkarelien auf einem Bauernhof arbeitete. Der junge Mann wollte sich (kurz nach dem Tod seiner Mutter 1973) bewusst in die Einsamkeit zurückziehen und keine anderen Teilnehmer von Work&Travel-Aktivitäten treffen. Von seinem Vater ging damals deutlicher Druck aus, sich endlich für eine Berufslaufbahn zu entscheiden, damit der Vater nach dem Tod seiner Frau mit seiner jahrelangen Geliebten zusammenziehen kann. Der finnische Wortschatz des Niederländers wächst damals parallel zum Melken, Holzmachen und seiner Arbeit im Sägewerk, wo er beim Sägen der Stämme hilft, die später Hütte und Sauna von Matti und Rittva heizen werden. Trotz seines Bedürfnis nach Alleinsein nimmt er an einem Lehrerausflug nach Lappland mit Mattis Bruder und dessen Kollegen teil und erlebt anschließend die zarte Andeutung homosexueller Zuneigung, die er vermutlich erst später einordnen kann. Auf der Reise zur Buchmesse fallen Erinnerungssplitter wie Puzzleteile an ihren Platz. Kochs Icherzähler begreift aus der Distanz, wie er jeweils durch Reisen seine Depression nach dem Tod seiner Eltern überwand und warum er als Jugendlicher ausdrücklich vor der Gewalt fremder Männer gewarnt wurde. Er lässt seine Gedanken wandern nach Lappland zu seiner kurzen Beziehung zu Anna und sät an Annas Beispiel Zweifel daran, dass seine Geschichten biografisch sein könnten. Theoretisch könnte er ja jedem Zuhörer eine andere Geschichte erzählen und nur die direkten Zeugen einer Szene würden die Wahrheit kennen. Auch eine Journalistin, die ihn anlässlich der Buchmesse interviewt, hat offenbar das Bedürfnis, das Werk des Autors und Geschichten, die er erzählt, voneinander zu trennen. Für Herman Kochs literarisches Ich existieren Figuren, weil er sie erfunden hat. Viele Menschen erzählen ungeheuer lebendig, wie sie mit 18 bis 20 allein die erste weite Reise unternahmen oder die erste fremde Stadt erlebten. Kochs autofiktionale Erinnerungen an diese Stufe im Erwachsenwerden berühren seine Erinnerungen leicht wie Libellenflügel, von einem Romanautor hatte ich jedoch tiefere Einsicht seiner Figur erwartet, warum das so ist.