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Buchdoktor

Posted on 29.8.2021

Marta Kristine Andersdatter Nesje (1793-1877) arbeitete im norwegischen Romsdal als Hebamme. Der größte Ort ist dort heute Ålesund. Für ihre Zeitgenossen wird es unvergesslich sein, wie Hebammen-Stina mit ihrer Instrumententasche zu ihren Gebärenden selbst über den Fjord ruderte oder von kräftigen Knechten gerudert wurde. Marta wuchs mit einer Schwester auf, geprägt von ihrem fleißigen Vater Anders Knudsen, der als Schlachter und Schuster arbeitete. Das Gerben der Häute und das Anfertigen der Schuhe blieb so in einer Hand. Da sich die Leute am Fjord gute Schuhe nur selten leisten konnten, nahm Vater Anders jede Gelegenheit wahr, etwas zu verdienen. Direkt am Fjord ein Altenteilerhaus zu pachten und dem Besitzer dafür Hand- und Spanndienste zu leisten, war eine der schlauen Ideen des Anders Knudsen. Martas Vater brachte seinen Töchtern Lesen bei, für einen Kleinbauern&Handwerker war das um 1800 sicher nicht selbstverständlich. Stina will weder Magd noch Hausfrau werden und ist sich schon früh bewusst, wie hoch damals das Risiko Gebärender war, die Geburt nicht zu überleben. Als Stina beschließt, an einem 6-wöchigen Hebammen-Kurs teilzunehmen, ist sie selbst bereits schwanger. Sie profitiert nicht nur von der Förderung durch ihren vielseitigen Vater, sondern auch vom Engagement eines engagierten Bezirksarztes, der vor Beginn des Kurses ein Lehrbuch für sie liefern lässt, von ihrer ungewöhnlichen Ehe, in der sie 10 Kinder zur Welt bringt, und nicht zuletzt davon, dass ihre älteste Tochter Ingeborg sich opfert, die kleinen Geschwister aufzieht und damit die klassische Rolle einer „alten Jungfer“ übernimmt. Marta Kristine ist die Ururgroßmutter des Erzählers, der das Gerüst nackter Fakten, wer wann wo lebte und getauft wurde, mit einem bewegenden Porträt der Familie Nesje füllt. Eindrucksvoll ist Edvard Hoems Familiengeschichte allein schon dadurch, dass im Romsdal meist noch Schnee lag, wenn die Obstbäume blühten und zur Erntezeit schon wieder Schnee lag. Ein Blick in den Fjord verdeutlicht, unter welchen Bedingungen Marta arbeitete und wie stark Gebärende auf die Hilfe weiser Nachbarinnen angewiesen waren, da man bei Komplikationen keinen Arzt rufen konnte. Unvergessliche Figuren sind auch Martas Vater, der seine Tochter noch in hohem Alter unterstützt, Tochter Ingeborg als Ersatzmutter ihrer Geschwister und Hans Nesjes Bruder Ola, der den elterlichen Hof bewirtschaftet. Der Roman „auf der Grundlage dokumentierter Fakten“ hat einige Längen; die standesrechtlichen Streitereien zwischen Marta, der Gemeinde und den örtlichen Bauernfamilien sind aus heutiger Perspektive nicht sofort nachzuvollziehen und die eigentliche Hebammentätigkeit steht im mittleren Teil weit hinter der Familiengeschichte zurück. Welche Persönlichkeiten im 19. Jahrhundert im entlegenen Romsdal überleben konnten und welche sich damit schwertaten, das verknüpft Edvard Hoem zu einem eindringlichen Lebensbild.

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