Buchdoktor
Für die Leuchtturmbehörde und die Betreiberfirma Trident Rock war der Fall der 1972 spurlos vom Maiden Rock verschwundenen Leuchtturmwärter abgeschlossen. Nicht jedoch für die Ehefrauen und den Schriftsteller Dan Sharp, der 20 Jahre später Helen, Jenny und Michelle befragt. Von der genauen Rekonstruktion des Falls und seines möglichen psychologischen Hintergrunds scheint sich Sharp neue Erkenntnisse zu versprechen auf der Suche nach einem bisher unbeachteten Detail. Jede der Frauen hat sehr persönliche Gründe dafür, den Fall wieder aufzunehmen - oder ihn ruhen zu lassen. In der Silvesternacht hatte der Bootsführer des Versorgungsschiffs den Leuchtturm unbesetzt vorgefunden, der Tisch war nur für zwei Personen gedeckt, beide Uhren verstellt worden. Aufgrund des Wetters hätte an den Tagen zuvor kein Boot den Felsen erreichen können, darum kommt Jory Martin mit der Ablösung für einen der Männer erst später als geplant und findet den Leuchtturm leer vor. Niemand mochte glauben, dass aus einem gegen die Winterfluten verrammelten Leuchtturm drei Männer spurlos verschwinden können – und ihre Pflicht einfach im Stich lassen. Maiden Rock galt als sehr spezieller Leuchtturm, 15 Seemeilen von der Küste entfernt, direkt auf eine winzige Felsklippe gebaut, auf der sich niemand einfach mal die Füße vertreten konnte. Sharp nimmt geduldig die Spur dessen auf, was sich auf dem Turm ereignet haben könnte. Wenig verwunderlich trifft er in der eingeschworenen Gemeinschaft der „Wärter“ auf sehr spezielle, genügsame Persönlichkeiten, ein bedrückendes System sozialer Kontrolle zwischen den Leuchtturmwärterfamilien und ganz große Gefühle, die „die Maiden“ bei den Beteiligten auslöste. Auf den Leuchtturm können einige offenbar eifersüchtig sein wie auf eine Person, und die verantwortungsvolle Arbeit ist sehr viel mehr als ein Job. Arthur, der erfahrene Oberwärter, und seine Frau Helen spielten in der Gemeinschaft eine besondere Rolle. Arthur wurde geachtet und bewundert, aber das war längst nicht alles. Jenny war schlicht stinkwütend, dass ihr Billy jedes Mal für Wochen auf dem Felsen verschwand und sie für die drei kleinen Kinder allein zuständig war. Als Erbe einer Genrationskette von Leuchtturmwärtern empfinde ich Billy als durchaus tragische Figur. Vincent, der jüngste der Männer, war nach Absitzen einer Gefängnisstrafe gerade frisch in Freiheit. Man sagte, dass ehemalige Gefangene sich mit der Enge im Turm am besten einrichten konnten. Vincent braucht diese Arbeit unbedingt und würde sich sicher nichts zuschulden kommen lassen – auch wenn er als Vorbestrafter ein willkommenes Bauernopfer zu sein scheint. Die Ereignisse finden an einem Schnittpunkt von Material (der Leuchtturm), Naturgewalten, Gruppendynamik und einer Prise Mystik statt. Emma Stonex lässt den Interviewer Sharp direkt auf der Beziehungsebene einsteigen. Die übrigen Faktoren spielen Nebenrollen, so dass für mich nicht alle Fragen zum Leuchtturm beantwortet wurden. In etwas eintöniger Form kommen die drei Frauen als Icherzählerin zu Wort, aber auch die Innensicht der Männer bleibt nicht verborgen. Jeder trägt Informationen bei, die Emma Stonex‘ Leser immer wieder an den Vorgängen zweifeln lassen. Mit sehr atmosphärischen Schilderungen des sturmumtosten Felsens und einer hochinteressanten Gruppendynamik lässt Emma Stonex ihre fiktive Geschichte zu einem runden Ende kommen. Heute funktionieren Leuchttürme automatisch ohne ihre „Wärter“. --- Der historische Hintergrund Im Jahr 1900 verschwanden vom Flannan-Isles-Leuchtturm auf Eilean Mòr/Äußere Hebriden die drei Leuchtturmwärter. Emma Stonex verlegt in ihrem rein fiktiven Roman das Ereignis ins Jahr 1972 und an die englische Südküste nach Cornwall.