gachmuret
Nach diesem Buch kann man nur froh sein über die Gnade der späten Geburt. Lindsey Fitzharris führt zurück in die Anfänge der modernen Medizin, genauer: der Chirurgie. Und die sind (so muss man es heute sehen) schaurig. Ohne Narkose, in hoffnungslos verdreckten Sälen und vor nicht weniger verschmutztem Publikum wurden in rasender Geschwindigkeit Operationen durchgeführt, bei denen eine Überlebensrate von 50% schon als brillant galt. Im Mittelpunkt ihrer Darstellung steht Joseph Lister, der zu einem Pionier der antiseptischen Chirurgie werden wird und am Ende seines Lebens hochgeehrt werden wird. Sein Weg dorthin ist allerdings steinig, es bedarf gutwilliger Förderer, eine erhebliche Hartnäckigkeit und sauberer empirischer Arbeit, ehe sich seine Thesen und Arbeitsweisen trotz frappierender Erfolge nur mühsam und gegen große Widerstände durchzusetzen vermögen. Über die Person Listers hinaus gehört dieser Aspekt für mich zu den spannendsten Momenten: Welch heftige Abwehrreaktionen Listers einleuchtende, überzeugende und belegte Arbeiten bei den zeitgenössischen etablierten Medizinern hervorriefen. Da er nichts weniger als einen Paradigmenwechsel forderte, mag das nicht überraschen, aber es zeigt auch, dass es mehr braucht als nur die wissenschaftlichen Beweise. Denn im Prinzip sagte er: Ärzte, mit eurer Arbeitsweise tötet ihr Menschen. Klar, dass die davon nicht begeistert waren. Betrachtet man das Schicksal von Ignaz Semmelweis, der zur selben Zeit zu ganz ähnlichen Ergebnissen kam, aber in der Psychiatrie landete, wird das vielleicht ganz deutlich. Das ist denn auch mein einziger Kritikpunkt: Das Buch neigt dazu, in eine Hagiographie abzurutschen, bei aller berechtigten Bewunderung für Lister, der Großartiges geleistet hat: Man bekommt doch sehr den Eindruck, an ihm habe sich das Schicksal der Welt entschieden...