Buchdoktor
In der titelgebenden Kurzgeschichte des Originals „Land der großen Zahlen“ erhält der junge Zhu Feng von seinem Kindheitsfreund Li einen angeblich totsicheren Anlagetipp. Doch mit Aktien reich werden kann Zhu erst, wenn er sich bei Li Geld leiht. Der Vater des Freundes war im Immobiliengeschäft erfolgreich und wird seinem Sohn zur Hochzeit eine Eigentumswohnung kaufen. Ohne Geld und ohne Auto braucht ein junger Mann im modernen China an eine Heirat erst gar nicht zu denken. Zhu Fengs Vater dagegen geht wie Männer vor 30 Jahren noch immer täglich mit dem Vogelkäfig in der Hand in den Park, um andere alte Männer zu treffen. Als Angehöriger der nach 1990 geborenen Generation fühlt Zhu sich auf dem besten Weg zum Erfolg und seinem rückständigen Vater überlegen. Als Zhu nach kurzem wirtschaftlichen Erfolg von der Asienkrise der Jahrtausendwende getroffen wird, konfrontiert ihn seine Mutter damit, dass der Vater seit den Ereignissen auf dem Tiananmen-Platz 1989 Invalide ist und wegen seiner Beteiligung an den Protesten seine Taxifahrer-Lizenz verloren hat. Über ein zentrales Ereignis der chinesischen Geschichte durfte in Zhus Familie nicht gesprochen werden, so dass Eltern und Sohn nebeneinander lebten, ohne die jeweils andere Generation verstehen zu können. In 10 Storys erzählt Te Ping Chen von chinesischen Protagonisten. Die Behauptung, dass ihre Storys über China erzählen, führt in die Irre, da einige ihrer Figuren in den USA leben. „Land der großen Zahlen“ empfinde ich als die zentrale Geschichte des Bandes, da sie eindringlich zeigt, wie Zensur zur Selbstzensur führt und eine Nation schließlich historische Ereignisse komplett verdrängt, anstatt zu verzeihen und aus der Vergangenheit zu lernen. Das Sprech- und Denkverbot wirkt bis in die Familie Zhu hinein, in der Eltern und Sohn nicht über die Vergangenheit reden können. Die Geschichte hat mich nicht nur angesprochen, weil sie ein zentrales historisches Ereignis aufnimmt, sondern weil sie Einblick in Zhu Fengs Denken gibt, was nicht allen Geschichten gelingt. Gefallen hat mir auch „Die neue Frucht“, in der eine überraschende Neuzüchtung verdrängte Erinnerungen weckt und die chinesische Gesellschaft mit dem Verzeihenkönnen konfrontiert. Sprachlosigkeit zwischen den Generationen, Entfremdung zwischen Auslandschinesen und Daheimgebliebenen sind ebenso Chens Thema, wie die Stadt-Land-Kluft, krasses Wohlstandsgefälle und ein Staat, der mit Brot und Spielen seine Bürger unmündig hält. Generell fand ich Chens Storys aus der Ichperspektive schwächer, weil diese Figuren zu wenig von sich preisgeben. Wer sich bereits mit dem Thema „Chinesisch-Sein“ in China und in Übersee befasst hat, wird sicher leichter Zugang zu Chens Figuren finden als Leser, denen das Thema völlig neu ist.