anne_hahn
Deutschland war Europa. Lettland, das Land seiner Mutter, lag auch in Europa. Er hatte zwei Zuhause: Riga mit seiner Mutter und Amerika mit seinem Vater, auch wenn Janis noch nie dort gewesen war. Deutschland musste irgendwo dazwischen liegen. Seine Mutter war in den Ferien und er auch, aber "Ferien" schien in diesem Fall das falsche Wort, weil das Zuhause seines Vaters, wohin er unterwegs war, angeblich auch sein eigenes Zuhause sein sollte. Der Freiwillige, der zweite Roman des US-amerikanischen Autors Salvatore Scibona, erzählt auf knapp 600 Seiten von Kriegern und (drei Generationen) von Männern. Es ist ein ausuferndes, untergründiges Buch, das im Kopf der Leserin weiterbohrt und mäandert. Mein Freund empfahl mir vor einigen Wochen, es unbedingt zu lesen, dieses im Frühjahr 2021 beim Berlin-Verlag erschienene Buch kenne "keine Gnade!" Er liebte seine Mutter. Sogar als Teenager stand er oft auf und ging zu ihr, wo immer sie sich in dem kleinen Haus gerade aufhielt, und sie blieben beide dort, ohne ein Wort miteinander sprechen zu müssen, jeder mit seinen Dingen beschäftigt. Das zweite Zitat findet sich auf Seite 47 des von Bettina Abarbanell und Nikolaus Hansen sorgsam ins Deutsche übertragenen Romans. Wir haben bisher verfolgt, wie der kleine Junge Janis in der nahen Gegenwart auf dem Hamburger Flughafen strandet und weinend herumirrt. Wie sein Vater Elroy ihn zurücklässt, in einem zu knappen, verschlissenen Anorak, mit seiner Armbanduhr und zweihundertnochwas Dollar in der Jackentasche. Dieser Vater Elroy, erfahren wir anschließend, fliegt weiter in die USA. Landet bei seinem Ziehvater Tilly, ohne Geld und ohne Kind. Damit beginnt die Zeitreise. Erster Teil: In der Prärie nördlich von Davenport, Iowa, wird Tilly alias Vollie (the Volunteer) 1950 als Sohn eines ungewöhnlich alten Farmerpaares geboren und aufgezogen. Er liebt seine Eltern. Mit 17 meldet sich Vollie (mit gefälschter Einwilligung des Vaters) als Freiwilliger zur Army und landet wenig später in Vietnam. Bumm. Dieser Roman wechselt Zeit und Tempo, dass einem schwindelig wird. Haben wir soeben 60, 70 Jahre hin und her durchrast, hält der Autor plötzlich inne und badet 100 Seiten lang im Krieg. Man sah es einem an, wenn er Angst hatte. Sie hatten alle eine Wahnsinnsangst, selbst wenn sie bekifft waren, aber du konntest es erkennen, woran, an den zu weit aufgerissenen Augen, den Überreaktionnen auf irgendwelche Bewegungen und Sonnenspiegelungen auf den Windschutzscheiben vorbeirollender Motorroller ... Ich habe mit oft angehaltenem Atem gelesen, wie Salvatore Scibona seinen Freiwilligen von einer tödlichen Gefahr zur nächsten hetzt und wie Vollie in Bars geht, sich betrinkt, über das Sterben nachdenkt und eine Haarspange für das Mädchen besorgt, das ihm gefällt. Wie er tötet und lernt, dass alles, was man liebt, einem genommen werden wird. Wie er einen Freund findet, den ruhelosen Bobby Heflin, der ihm das Meditieren beibringt. Wie er das Telegramm bekommt, das ihm den Tod des Vaters mitteilt, wie er der Mutter antwortet, er könne nicht zur Beerdigung kommen. ... Augen, die allzu sicher waren, ihn kommen zu sehen, den Moment, den tödlichen Augenblick; daran, wie einer gebückt herumschlich, selbst wenn er keine Ausrüstung zu schleppen hatte; und alles lief auf die Gier hinaus, weiterzuleben, verbunden mit dem Wissen, dass es nichts werden würde. Nach dem Motto, ich weiß, dass ich hier nicht rauskomme. Und dann hörst du ein paar Wochen später, dass der Kerl tot ist. Der Krieg verändert Vollie, wenn es mir schon vorher schwerfiel, sein Freiwillig-in-den-Krieg-gehen zu verstehen, wird er mir jetzt rätselhaft. Vollie kehrt zurück in die USA, stromert herum, meldet sich nicht bei seiner Mutter, aber schnell wieder bei der Army. Ab nach Vietnam. Als Corporal mit 19 Jahren ist es ihm egal, ob er draufgeht, er steht mit weißem T-Shirt am MG auf dem Geschützturm seines Trucks und ballert in den Dschungel. Stimmen raunen, Gestalten huschen durch den Urwald und ein Sondereinsatz bringt ihn mit einer Handvoll Desperados nach Kambodscha, wo er in Gefangenschaft gerät und als Einziger überlebt. 412 Tage ist Vollie in einem Tunnelsystem gefangen, mit einem Loch im Rücken, das allmählich verheilt. Die nächsten vier Fünftel des Buches erleben wir mit Vollie, der in der Heimat eine neue Identität (Tilly) und geheimnisvolle Aufgaben übertragen bekommt. Dass er im New York der Siebziger Jahre einen Greis aufspüren soll und wir in herrlich atmosphärischen Beschreibungen in die Stadt und einen Verschlag hinter der Wand einer Pension eintauchen, führt wieder zum Verlust einer liebgewordenen Figur – Salvatore Scibona kennt tatsächlich keine Gnade. Auf der Ranch seines Freundes Bobby, wohin Tilly sich flüchtet, lebt Louisa, eine Frau der Ex-Kommune. Und Elroy, das Kind des Gruppen-Experimentes. Kann Tilly Louisa lieben und für sie und Elroy Familie sein? Was wird aus Elroy? Und was ist eigentlich mit Janis, der in ferner Zukunft auf eine Adoption wartet und lange glaubt, er sei im Himmel gelandet? In diesem Buch ist keine Seite zu viel, kein Nebenstrang zu weitschweifig. Salvatore Scibona schafft ein detailgetreues Abbild des Krieges und seiner Verheerungen. Die (alb-)traumhaften Bilder, die uns scheinbar spielerisch vor Augen führen, was die Überlebenden mit sich tragen müssen, sind das eigentliche Kunstwerk. Was sich einsenkt in die Psyche. Ein großartiges Buch, ein Vexierspiel im Sinne Bolaños!