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Buchdoktor

Posted on 13.8.2021

Die kleine Gemeinde-Bücherei von Chalcot ist das Herz des Dorfes. Hierher kommen alleinlebende Senioren zum Zeitunglesen und um den PC zu nutzen, wissbegierige Schüler stillen ihre Neugier und neu zugezogene Migranten tun ihre ersten Schritte in einer fremden Umgebung. June Jones ist schon immer gern in die Welt der Bücher eingetaucht und der Dorfbücherei eng verbunden, weil ihre verstorbene Mutter sie früher geleitet hat. Aus Loyalität zu Junes Mutter hat Marjorie sie damals direkt nach der Schule in Teilzeit eingestellt, obwohl June keine Ausbildung abgeschlossen hat. Heute ist June die Seele der Bücherei, die sich um den betagten Stanley ebenso liebevoll kümmert wie um die Schülerin Chantal, die nur hier in Ruhe Hausaufgaben erledigen kann. Als mehrere Büchereien des Landkreises von der Schließung bedroht sind, muss June befürchten, dass sie ihre Stelle verliert. Nicht, weil die Kreisverwaltung Sparmaßnahmen beschlossen hat, sondern weil Marjorie das Mädchen damals aus Mitleid einstellte, aber nicht darauf drängte, dass June wenigstens eine Ausbildung bei der Gemeinde abschloss. Völlig in die Welt der Bücher eingesponnen, war June bisher nicht bewusst, dass „ihre“ Besucher typische Bevölkerungsgruppen vertreten (Senioren, Singles, Schüler, Migranten) und einige von ihnen ihr Interesse an der Weiterführung der Bücherei auch sehr gut öffentlich vertreten können. Von der Kampagne zur Rettung der Bücherei von Chalcot wird June völlig überrollt. Parallel zur Aufregung um die Büchereischließung taucht der attraktive Alex im Dorf auf, der für seinen Vater im China-Imbiss einspringt und in Junes Alter ist. Junes Nachbarin Linda setzt als Freundin von Junes verstorbener Mutter alles daran, dass die knapp 30-Jährige endlich ein eigenes Leben führt und mit dem Tod ihrer Mutter abschließt. Dass Junes Problem nicht die Schließung ihrer geliebten Bücherei ist, sondern ihre fehlende Ausbildung, um sich in einem möglicherweise umorganisierten Bibliothekssystem bewerben zu können, vernachlässigt die rührende Geschichte leider. Sprachlich fand ich den Roman (oder die Übersetzung?) streckenweise unpräzise, wenn z. B. Gehalt und Lohn synonym verwendet werden oder Privatisierung/Mäzenatentum/Ehrenamt. Besser gefallen hätte mir, wenn Bibliotheken und Kultur hier als selbstverständliche staatliche Aufgabe dargestellt worden wären. So kommt es, wenn ungelernte Kräfte für ihren „Job“ dankbar sein müssen, anstatt selbstbewusst dafür einzutreten. Nicht nur mit der Nennung zahlreicher gut gewählter Buchtitel vermittelt Freya Sampson die heimelige Atmosphäre unter Bücherliebhabern, sie zeigt eine kleine Dorfbücherei auch als soziale Einrichtung, in der es um mehr geht als um Statistikzahlen. Wer „Im Freibad“/The Lido geliebt hat, sollte hier unbedingt zugreifen. Nicht gefallen hat mir die klischeehafte Sicht auf die schüchterne June, ihre autoritäre Vorgesetzte und die „böse Gemeindeverwaltung“, die zuerst an Kultur und Bildung sparen will, weil dort der geringste Widerstand erwartet wird.

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