Buchdoktor
Die junge Neurowissenschaftlerin Gifty promoviert in Harvard über den Einfluss des Belohnungssystem im Gehirn auf Selbstkontrolle und Suchtanfälligkeit. Aus der Forschungsarbeit reißt sie ein Anruf des Pastors ihrer Mutter, die erneut an Depressionen erkrankt ist. Gifty holt die fast 70-Jährige zu sich an die Ostküste und vernachlässigt dafür ihre Versuchsreihe. Giftys Eltern waren mit einer einzigen gewonnenen Green Card aus Ghana in den Bible Belt der USA gekommen. Die wissenschaftliche Karriere ihrer ehrgeizigen Tochter könnte als Musterbeispiel einer Aufsteiger-Biografie gelten. In Rückblenden, von Gifty in der Ichform erzählt, entfaltet sich jedoch eine deprimierende Familiengeschichte. Der Vater konnte seine Diskriminierung als Afroamerikaner nicht länger ertragen und kehrte nach Ghana zurück; die Mutter rackerte sich mit zwei Jobs als private Krankenpflegerin ab. Ihre Planung war so knapp auf Kante genäht, dass Krankheit und unvorhergesehen Probleme darin keinen Platz hatten; denn sie wollte ihre Patienten auf keinen Fall im Stich lassen. Als Giftys älterer Bruder Nana nach einer Sportverletzung Oxycontin verordnet bekommt, bedeutet nicht die Verletzung das Ende seiner Baseball-Karriere, sondern die Drogensucht, die seiner vorauszusehenden Medikamentenabhängigkeit folgt. Obwohl der Versuch einer rein religiös motivierten Suchttherapie für Nana kläglich scheitert, lehnt die Mutter für ihre eigene Erkrankung nach wie vor jede klinische Therapie ab. Als Gifty 11 Jahre alt war, litt ihre Mutter bereits an Depressionen und suchte bewusst Heilung in ihrer Religion. Damals wurde Gifty zu ihrer Tante nach Ghana geschickt und erkannte, dass psychische Krankheiten in verschiedenen Kulturen jeweils andere Gesichter haben. Den Gedanken, dass die Behandlung sich folgerichtig an der jeweiligen Kultur ausrichten sollte, wird sie erst viel später entwickeln. Rückblickend war die Bindung an eine evangelikale Gemeinde eine der Ursachen der Erkrankung ihrer Mutter. Als einzige schwarze Familie unter Weißen isoliert, rackerte die Mutter sich in schlecht bezahlten Pflegestellen ab und erfuhr außer schönen Worten keine Unterstützung ihrer Gemeinde. Fast 20 Jahre später realisiert Gifty, dass ihre eigene Sucht die Forschung ist, weil sie das Getuschel in der Kirche von damals, Schwarze wären eben anfälliger für Suchterkrankungen, nicht auf Nana sitzen lassen wollte. Die Themen Neurowissenschaft, Religion, Rassendiskriminierung und psychische Erkrankung verknüpft Yaa Gyasi zu einer bewegenden Familiengeschichte. Dass institutioneller Rassismus als vererbliches Trauma psychische Erkrankungen verursachen oder verstärken kann, deutet sich bereits zu Anfang des Romans an. Die verzögernde Wirkung der Rückblenden, bis Gifty den Zusammenhang selbst ausspricht, hat mich hier weniger angesprochen.