Wordworld
Nachdem Astrid Scholte mit ihrem Debüt "Four Dead Queens" einen temporeichen Genre-Mix gezaubert hat, der zu einer meiner liebsten Überraschungen im Lesejahr 2020 geworden ist, war ich sehr gespannt auf ihren neuen Einzelband "Into Dark Waters". Eine postapokalyptische Wasserwelt mit schwimmenden Metallriffen, wenigen hart umkämpften Inseln und versunkenen Städten? Ein Mädchen, das verzweifelt versucht, ihre Schwester ins Leben zurückzuholen und dabei in die moralisch fragwürdigen Machenschaften einer Forschungsinsel verwickelt wird? Das klang nach einer wahnsinnig starken Geschichte mit viel Potential. Leider tauchen mit der Zeit immer mehr Fragezeichen auf, die sowohl die Handlung, das Worldbuilding als auch die Figuren betreffen und dafür sorgen, dass "Into Dark Waters" trotz spannender Grundidee weit hinter "Four Dead Queens" zurückbleibt. Doch bevor ich näher ausführe, was mich schlussendlich bei der Umsetzung der Idee gestört hat, will ich noch ein paar Worte zur Gestaltung sagen. Genau wie bei Astrid Scholtes Debüt hat der Piper Verlag mal wieder einen Volltreffer gelandet, der das Cover der Originalausgabe um Welten aussticht. Statt eines im Wasser treibenden Mädchens sieht man in dieser Ausgabe vor einem zweigeteilten Hintergrund einen durch Wasserkleckse verwischten Titel in Großaufnahme. Die obere Hälfte des Covers ist strahlend weiß, die untere Hälfte ist schwarz wie das Meer bei Nacht - der Übergang wird durch Luftblasen und aufspritzende Wassertropfen fließender gemacht. Durch die harten Schwarz-Weiß-Kontraste und der Fokus auf das prägende Element der Geschichte - Wasser - passt die Gestaltung wunderbar zur Geschichte und auch der Titel "Into Dark Waters" greift die Gefahr, die im Meer lauert, gelungen auf. Zwar ist auch der Originaltitel "Vanishing Deep" sehr passend, "Into Dark Waters" finde ich gerade in Verbindung mit der Covergestaltung des deutschen Verlags aber sogar ein bisschen gelungener. Erster Satz: "Ich wollte meine Schwester nicht wiedererwecken, weil ich sie liebte." Schon von den ersten Sätzen war ich eingenommen von der Geschichte, die so voller brüllender Wut, leiser Hoffnung, Unbarmherzigkeit und Mysterium startet. Wir lernen hier die junge Tempest kennen, die sowohl ihre Eltern als auch ihre ältere Schwester Elysea an das Meer verloren hat und nun Tag und Nacht nach Schätzen in den Ruinen der überfluteten alten Welt taucht, um genügend Geld für eine Wiedererweckung ihrer Schwester auf der Forschungsinsel Palindromena zu sammeln. Für 24 Stunden werden geliebte Menschen dort durch ein neues Verfahren bei ausreichender Bezahlung ins Leben zurückgeholt, bevor ihr Herz nach der abgelaufenen Zeit endgültig zu schlagen aufhört. Tempest will ihre 24 Stunden mit ihrer Schwester jedoch nicht für rührselige letzte Worte verschwenden - sie will herausfinden, was mit ihren Eltern und ihrer Schwester passiert ist, um endlich eine Richtung für ihre Wut zu finden. Doch als sie durch eine Verkettung von Zufällen mit ihrer Schwester und dem Palindromena-Wächter Lor erschreckendes herausfindet, zählt jede Sekunde.... Lor: "Wir lernen nie aus unseren Fehlern, warum sollte man sich also mit der Vergangenheit beschäftigen?" Passend dazu ist jeder Kapitelanfang mit einer Datums- und Zeitangabe versehen, die die restliche Zeit von Elyseas 24-Stunden-Wiedererweckung herunterzählt. Dadurch und durch die Tatsache, dass die gesamte Handlung in gerade mal etwas mehr als 48 Stunden spielt, sind die Spannung und das Erzähltempo hoch. Dazu gesellen sich die spannende überflutete Wasserwelt, die Geheimnisse um die High-Tech-Forschungsinsel Palindromena und die Rätsel über die Vergangenheit der Protagonisten, die gerade das erste Drittel zu einem extremen Page-Turner machen. Je mehr man dann jedoch im Verlauf der Geschichte erfährt - über Lors Schicksal, über Tempests Eltern und die Nacht, in der ihre Schwester starb... desto weniger Sinn ergeben die Handlungen der Figuren. Tempest: "Sie erleuchteten den Weg zum Meeresboden. So wie die Lichter der Alten Welt früher einmal Kopfsteinpflaster erhellt hatten. So wie die Sterne den Nachthimmel erstrahlen ließen. Eine versunkene Konstellation (...) Eine verlorene Stadt. Eine ertrunkene Gesellschaft. Ein perfekter Ort für die Ernte." Auch im Worldbuilding tauchen mit der Zeit immer mehr Ungereimtheiten auf. Mir ist klar, dass "Into Dark Waters" in einer postapokalyptischen Welt spielt und sich innerhalb von 500 Jahren einiges verändert haben kann. Einige hier beschriebene Vorgänge stehen aber auffällig im Wiederspruch zu den physikalischen oder biologischen Gesetzmäßigkeiten unserer Welt, was die Glaubwürdigkeit der Handlung regelmäßig einschränkt. Beispielsweise hält das Glas eines Unterwassergebäudes den Druck von 1500 Metern Wasser stand, zerbricht aber wenn ein Stein von innen dagegen geworfen wird? Obwohl nur 500 Jahre sind, hat sich seit der großen Überflutung das maritime Leben komplett verwandelt und es leben neben fluoreszierenden Korallen und Fischen auch gefährliche Ungetüme in den Fluten (so viel Evolution gab es auf der Erde seit dem Aussterben der Dinosaurier nicht und vor allem nicht in so kurzer Zeit)? Eine populäre Todesursache dieser Welt ist eine Kristalllunge durch das vermehrte Einatmen von Salzes (Unlogisch, wo doch auch heute viele Menschen an oder auf dem Meer leben und keinerlei Probleme damit haben)? Boote gehen unter, sobald eine Person zu viel an Bord ist (was angesichts der Größe derer absolut keinen Sinn ergibt)? Leben kann durch Puls übertragen werden und Herzen können zwischen nicht verwandten Personen transplantiert werden? Das sind nur einige der Beispiele, in denen die Autorin zugunsten der spannenden Handlung die Regeln der Welt bricht, in der die Geschichte spielt und das ist gerade im Genre Science-Fiction ein ziemliches No-Go für mich. Lässt man seine Geschichte in unserer Realität spielen, muss man sich auch an deren Regeln halten, 500 Jahre in der Zukunft hin oder her... Tempest: "Das war immerhin etwas, das es in dieser Welt im Überfluss gab. Tod. Trotzdem genossen alle um uns herum das Leben. Sie hatten etwas aus dem Skelett der Alten Welt erbaut. Etwas, das blühte und gedieh." Ebenfalls seltsam fand ich, dass hier das blanke Überleben auf den an das einfache Leben des 1900 Jahrhunderts erinnernden Riffen auf eine High-Tech-Forschungsinsel trifft, auf der mit dem Tod experimentiert wird. Beide Ideen sind spannende Konzepte, passen für mich aber nicht wirklich in eine gemeinsame Welt, da man sich unweigerlich fragt, weshalb man die Ressourcen Palindromenas nicht dazu einsetzt, die Versorgung der Menschen zu verbessern. Passen High-Tech-Echolinks, fliegende Schnellboote und Werbespots in eine Welt, in der noch nicht einmal die Riffe untereinander kommunizieren, ein Teil des Meeres gesetzlos ist, es keine Regierung gibt, keine Produktion und nach Überbleibseln aus der alten Welt getaucht wird? Dazu kommt, dass wir ganz grundsätzlich nicht viel zum Setting und der Ausgangslage erfahren, da die beiden erzählenden Figuren Tempest und Lor selbst sehr ahnungslos sind, was sich hinter den Fluten noch alles versteckt. Hier handelt es sich beim Setting also offensichtlich mehr um Beiwerk - sehr spannendes zwar aber trotzdem nicht viel mehr als eine interessante Kulisse für die wirklich wichtigen Geschehnisse. Etwas mehr Details hätten mich sehr gefreut, da das Worldbuilding hier bestenfalls unfertig, schlechtestenfalls lückenhaft wirkt. Tempest: "Leben?" Ich schnaubte. "Ich habe nicht gelebt. Ich habe überlebt. Von einem Tag zum nächsten. Bis ich dich wiedersehen würde. Das ist kein Leben." Spannende Themen wie Anspielungen auf den Klimawandel, Störungen von Ökosystemen, Überfischung der Meere, Verantwortung gegenüber unserem Planeten sowie die Ethik von Leben und Tod werden zwar kurz angerissen, bekommen neben der temporeichen Handlung jedoch zu wenig Platz, um die Geschichte wirklich zu bereichern. Im Vordergrund steht ganz klar das spannende Abenteuer, dass Elysea, Lor und Tempest zusammen erleben. Genau wie bei "Four Dead Queens" hält sich Astrid Scholte nicht an die Begrenzungen eines Genres, sondern bringt neben der dystopischen Science-Fiction-Welt, einige Fantasy-Elemente wie der Kampf gegen den Tod, die Götter der Tiefe, leuchtende Korallen, ein bisschen Krimi um das Verschwinden ihrer Eltern, ein bisschen Piraten-Abenteuer mit der Konfrontation auf der ungebundenen See, ein bisschen Weltuntergangs-Thriller und eine leise Liebesgeschichte mit rein. Lor: "Ich verstand den Wunsch, sich vor dem Schmerz des Lebens verstecken zu wollen. Immerhin versteckte ich mich nun schon seit zwei Jahren im Aquarium. Doch wir konnten uns nicht immer vor der Wahrheit verstecken. Manchmal mussten wir das annahmen, was uns am meisten wehtat. manchmal mussten wir das Richtige für andere Menschen tun, auch auf unsere eigenen Kosten." Ebenfalls unter dem schnellen Erzähltempo leiden die Figuren. Sowohl die beiden sich abwechselnden Ich-Erzähler Lor und Tempest als auch Nebenfiguren wie Elysea, Raylan oder die beiden Hauptantagonistinnen bleiben viel zu eindimensional. Auch wenn Astrid Scholte mit Schuld, Wut, kurzen Gedankengängen über die Ethik von Leben und Tod versucht, ihre Figuren tiefgründiger zu gestalten, blieben sie mir über die Geschichte hinweg zu blass, als dass ich eine wirklich tiefgehende Beziehung zu ihnen aufbauen hätte können. Tempest ist eine wütende Kämpferin, die nicht loslassen kann, Elysea ist eine sanftmütige Tänzerin, die weiterleben will und Lor versteckt sich vor lauter Selbsthass vor der Welt - damit hat man alle Charakterzüge und Konflikte der drei Hauptfiguren zusammengefasst. Dass die Beziehung zwischen den beiden Schwestern toll ausgearbeitet ist, die obligatorische Liebesgeschichte nicht zu viel Raum einnimmt und Elysea asexuell ist sind dann Pluspunkte, die den Gesamteindruck aber nur unwesentlich verbessern können. Tempest: "Würdest du nicht auch den Ozean überqueren, um die Wahrheit herauszufinden? Die Wahrheit über den einen Moment, der erklärt, wer du bist?" Sowohl was die Handlung, das Worldbuilding als auch die Figuren angeht, hat Astrid Scholte also weit das Potential verfehlt, dass ihre Geschichte hätte entfalten können. Das bedeutet jedoch nicht, dass ich beim Lesen keinen Spaß hatte. Durch Astrid Scholtes gradlinigen Schreibstil wird eine packende Grundatmosphäre und eine unterschwellige Spannung trotz teilweise dürftigen Hintergründen aufrechterhalten. Sie nutzt anders als ich es von anderen Science-Fiction-Autoren gewohnt bin, nicht viele Schnörkel oder Details, um ihre Geschichte bunt auszuschmücken, sondern erwähnt nur das Wichtigste, um uns auf falsche Fährten zu führen, die Protagonisten näherzubringen und uns immer wieder zu fesseln. Passend dazu, dass die Autorin aus der Filmbranche kommt und an der Entstehung von unter anderem "Avatar" und "Happy Feet" mitgewirkt hat, konnte ich mir die Geschichte durch ihren Stil total gut als Film vorstellen. Ein solider Fokus auf die Handlung, ein hohes Erzähltempo, zwei grundsätzlich spannende Protagonisten mit der richtigen Balance aus sympathischer Oberflächlichkeit und Tiefe, die Erwähnung von nur den nötigsten Informationen aber trotzdem ein ansprechendes Setting - die Geschichte hat alles, um einen spannenden Blockbuster daraus zu machen. Als Roman hingegen konnte mich die Geschichte lang nicht so gut erreichen wie "Four Dead Queens". Auch das unkonventionelle, aber stark überhetzte Ende, in welchem der zentrale Konflikt sehr schnell abgeschlossen wird und vieles offen bleibt, bestätigt diesen Eindruck nochmals. Schade! Lor: "Ich durfte nicht daran denken, wie schön sie war. Wie weh es getan hatte, sie weinen zu sehen. Wie ihr Bild mehr und mehr meinen Kopf ausfüllte. Das würde mir nicht helfen (...) Zum ersten Mal in meinem Leben schickte ich ein geflüstertes Gebet an die Götter der Tiefe, obwohl ich nicht wusste, ob e es sie überhaupt gab, ob sie mich hörten oder ob es sie kümmerte, was mit mir geschah. Allerdings betete doch jeder so, nicht wahr? Im Vertrauen darauf, dass man nicht allein war, obwohl es dafür keinen Beweis gab." Fazit: Astrid Scholte erzählt hier eine temporeiche Geschichte voller origineller Ideen. Leider offenbart "Into Dark Waters" nach einem starken Einstieg jedoch immer mehr Ungereimtheiten, sodass wohl Handlung, Worldbuilding als auch die Figuren ihr Potential nicht vollständig entfalten können.