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Lesen macht glücklich

Posted on 5.8.2021

Eine Invasion, die keine sein will Es geht um Japan, um eine alternative Zeitlinie, die zur unseren einen völlig anderen Verlauf der Geschichtsschreibung aufzeigt, womit eine Invasion Japans durch nordkoreanische Truppen beschrieben wird. Seit Frederick Forsythe bin ich offen für solche Politthriller, die ein Eingangsszenario aufbauen, welches sich latent von unserer eigentlichen geschichtlichen Zeitlinie unterscheidet und damit eine (fast) unverrückbare Katastrophe heraufbeschwört. Während es bei Forsythe meistens gut ausgeht, wenn auch knapp, kann man sich bei Murakami nie sicher sein, ob dieses aufgebaute Szenario dasselbe macht. Alleine die Titulierung der zwei Bücher lässt da schon böse Vorahnungen aufkommen. Doch sind diese zwei Bände es überhaupt wert gelesen zu werden, ist es auch gut, was da geschrieben und welche Zielgruppe spricht dieses Thema überhaupt an? Das soll die folgende Besprechung zeigen, mit leichten Spoilern!!! Typischer Murakami, aber mit gewajt statt Erotik und Magie Wenn man sich den Umfang beider Bücher anschaut und die fast 1000 Seiten sieht, ist das erste „Uff“ bei vielen Menschen schon zu spüren oder zu hören. Was will man auf dieser Masse an Seiten alles erzählen? Eine Menge, wie ich finde, doch muss man sich auf einen typischen Murakami gefasst machen. Damit meine ich zwar den anderen, den berühmteren Namensvetter. Ersetzt man jedoch Feingefühl, Liebe und brachiale Erotik durch Gewalt und Politik kommen wir dem Schreiben von Ryu entscheidend näher und darin unterscheidet er sich gewaltig von Haruki. Gemeinsam ist beiden die ausschweifende Erzählweise, die in jedes noch so kleine Detail geht, vor allem bei alltäglichen Beschäftigungen. Ryu geht da noch einen Schritt weiter und stellt ein immenses Figurenensemble vor und stellt diesen teils sehr ausführliche Biographien anbei. Das macht die Figuren authentischer und man leidet in vielen Momenten mehr mit ihnen mit. Dabei macht Ryu keinen Unterschied zwischen Gut oder Böse. Für ihn sind alle gleich und dementsprechend neutral ist die Positionierung des Autors zu den verschiedenen Lagern. Doch ich schweife ab und fangen wir lieber von vorne an. Das Szenario, welches vor allem im ersten Buch aufgebaut wird, ist eine als Rebellenflucht getarnte Invasion Japans durch nordkoreanische Streitkräfte. Japan liegt wirtschaftlich am Boden, der Yen ist auf Talfahrt, die Arbeitslosigkeit auf Rekordniveau und Hoffnungslosigkeit wohin man schaut. Das ist für einige nordkoreanische Kader die Gunst der Stunde, dieses kurz vor dem K.O. liegende Land für sich einzunehmen, zumal man mit Japan noch viele Rechnungen aus der Vergangenheit offen hat. Doch eine aus dem Nichts kommende Kriegserklärung an Japan ohne Gründe, würde Nordkorea vor der Weltöffentlichkeit sehr schlecht dastehen lassen. Gerade in Zeiten, in denen man mit den USA immer bessere diplomatische Beziehungen aufbaut und auch die Nähe zu China immer mehr sucht. Also muss ein Plan her, der diese Gefahr umschifft. Diesen findet man bei alten Durchführungen der Nationalsozialisten, die vor dem Zweiten Weltkrieg oder währenddessen ähnliches planten. Ziel ist es, einige wenige gut ausgebildete Soldaten richtiggehend abzurichten. Dann werden sie als vom Staat abtrünnige Soldaten losgeschickt. Nordkorea erklärt, dass sie mit diesen als Rebellen getarnten Soldaten nichts zu tun hat und bietet Japan sogar seine Hilfe an, die diese jedoch ablehnen. Als erstes werden 9 Soldaten entsendet, die ein Stadion besetzen und alle Zuschauer in Geiselhaft nehmen. Das ganze natürlich nur so lange, bis die Verstärkung eintrifft, die erst einmal aus knapp 500 Soldaten besteht. Diese errichten eine Art Übergangsstaat namens Koyro auf japanischem Boden. Doch warum kann das alles so gut funktionieren? Weil die japanische Regierung erst überrumpelt und dann heillos überfordert ist mit dieser Situation. Anstatt Maßnahmen zu ergreifen, die die nordkoreanischen Eindringlinge festsetzen, wird ihnen quasi freies Geleit gelassen, man sieht ihnen fast tatenlos zu, und hilft ihnen bei ihren Plänen sogar noch, indem man die besetzten Teile Japans vom Rest des Landes mit einer Blockade aller Verkehrsmittel abschneidet. Alles spielt sich genauso ab, wie es sich die politischen Kader Nordkoreas ausgedacht haben. Sie hatten alles auf dem Zettel, sie hatten alles geplant. Doch eine Komponente hatten sie nicht bedacht, konnten sie gar nicht mit einbeziehen. Eine Gruppe von gestörten Soziopathen, von der Gesellschaft ausgestoßenen, bringt den einzigen Widerstand entgegen, mit denen man diesen Invasoren Herr werden könnte: den Widerstand mit Waffengewalt. Sie scheinen die einzigen zu sein, die den Nordkoreanern etwas entgegensetzen wollen. Doch das machen sie nicht, um ihrem Land zu dienen, sondern weil sie Spaß an der Gewalt haben. Wird diese Gruppe es schaffen, Japan vor der Invasion zu bewahren? Gewaltig(tätig)es Epos  Diese zwei Teile, die im Herbst 2018 und im aktuellen Frühjahr bei Septime erstmalig auf Deutsch veröffentlicht wurden, erschienen in Japan schon 2005 und das muss man im Hinterkopf haben, um vor allem einige wirtschaftliche Dinge zu vergegenwärtigen, die Japanab Mitte der 1990er in die Knie zwangen und fast in den wirtschaftlichen Ruin getrieben haben. Technische Details oder viele andere kleine alltägliche Dinge, die eben zu dieser Zeit aktuell waren, spielen in diesen zwei Büchern kaum eine Rolle. Dafür trägt die Leser die politische und militärische Dimension dieser ganzen Aktion durch die Seiten, insbesondere im ersten Buch. Der zweite Teil dagegen entwickelt sich mehr und mehr zu einer wilden Achterbahnfahrt, welche in einem furiosen Finale mündet, welches jedem Actionfilm gut zu Gesicht stehen würde. Dabei ist die Sprache, wunderbar übersetzt von Ursula Gräfe, der jeweiligen Situation angepasst und lässt vor dem inneren Auge die ganzen Szenarien sehr real auftreten. Der Autor schreibt sehr neutral, steht keiner Seite bei, sondern ist eher nüchtern bei der Sache, was aber nicht langweilig ist. Viele unterschiedliche Figuren stehen während des kompletten Geschehens im Blickpunkt, jedem Kapitel steht jemand anderes im Zentrum, aber auch das restliche Ensemble kommt währenddessen nicht zu kurz. So hangelt man sich durch die einzelnen Handlungspunkte, bekommt Verknüpfungen über unterschiedliche Menschen mit und erhält somit einen guten Überblick über das komplette Geschehen. Man muss aber vor allem im ersten Teil ein größeres politisches Interesse mitbringen und auch die zeitgeschichtlichen Geschehnisse der damaligen Zeit ins Gedächtnis zurückholen. Der zweite Teil dagegen ist mehr für Menschen mit etwas sattelfesterem Magen, insbesondere im letzten Drittel entfacht Murakami einen regelrechten Gewalttsunami, den er in manchen Momenten sehr bildhaft beschreibt. Passen dann beide Bücher überhaupt zusammen? Man kann den zweiten Teil bedingt lesen, ohne den ersten Band zu kennen. Allerdings sollte man sich irgendwie eine Zusammenfassung heran holen, um ein wenig die ganzen Figuren, die auch im zweiten Teil vorkommen, zumindest namentlich einprägen. Doch gibt Murakami vielen der handelnden Figuren ausführliche Biographien mit, so dass es für diejenigen schnell unübersichtlich wird, wenn man direkt mit Teil 2 startet. Man kann es tun, aber viele Handlungen einzelner Personen werden klarer, wenn man deren Hintergrund kennt und außerdem macht es einfach Spaß, sich diesem Irrsinn komplett hinzugeben. Eingangs erwähnte ich ja Frederick Forsythe, der mir insbesondere mit seinen Romanen imponiert, die während des Kalten Kriegs spielen und ähnlich verrückte Szenarien entwickeln. Als bestes Beispiel ist das Buch „Des Teufels Alternative“ zu nennen, wo eine Missernte in Russland und ein geplantes terroristische Attentat fast den dritten Weltkrieg auslösen. Eine ähnliche Ausgangslage beschreibt auch Murakami, wobei der Unterschied zu Forsythe der ist, dass hier nichts geheimdienstliches stattfindet. Vielmehr wird die ganze Zeit über zwischen den nordkoreanischen „Rebellen“, der japanischen Regierung und der Bevölkerung mit relativ offenen Karten gespielt. Und was ich besonders erfrischend fand, ist der Fakt, dass diesmal keine Regierung oder Spezialeinheit die tragende Rolle übernimmt, um den Nordkoreanern etwas entgegenzusetzen, sondern ein paar Irre, die von der Allgemeinheit vergessen wurden. Und ausgerechnet mit diesen Jungs leidet man bis zum Ende richtiggehend mit. Erst die Politik, dann die Verrückten Was bleibt zu sagen? Ein erster politischer Teil, ein zweiter, der mit Gewalt nicht geizt und ein Szenario, welches die ganze Zeit über vorstellbar an der Realität dran bleibt. Die Ausgangsituation mit der Invasion muss man erstmal hinnehmen, aber ab da entwickelt Ryu Murakami es logisch weiter und zieht die Spannungsschrauben immer mehr an. Die über 900 Seiten verfliegen rasend schnell und ehe man es sich versieht geht man aus dieser Geschichte raus, atmet tief ein und aus und ist froh darum, dass diese Geschichte eine fiktive geblieben ist, denn im realen Leben gibt es diese irren Soziopathen nicht, die einem den Allerwertesten aus dem Schlamassel ziehen. Danke Ryu für spannende Stunden, danke Ursula Gräfe für die in meine Augen sehr schöne Übertragung ins Deutsche – ich kann zwar kein Japanisch, aber bei manchen Worten, die im Roman vorkommen, konnte ich die Freude über deren Auftauchen schwer verbergen – und danke an den Septime Verlag, die diesem Roman eine Chance eingeräumt hat, im Deutschen zu erscheinen.

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