Variemaa
Lukas zieht nach Frankreich und trennt sich von Inga, seiner großen Liebe. Nicht, weil er nicht mehr bei ihr sein möchte, sondern weil er das Ungesagte nicht mehr aushält. Er leidet und Depressionen und dem Gefühl unvollständig zu sein. Denn Inga kennt sein Geheimnis nicht. Er hat einen Zwillingsbruder, der einst von der Familie zurückgelassen wurde. Schuld und Scham verfolgen Lukas, der in Frankreich Luc genannt wird. Sie treiben ihn in Exzesse, Selbstzerstörung und zu einer Menge Frauen. Dabei ist es nur eine, die er nicht loswird. Inga. Schneepoet startet mit Lukas Trennung von Inga. Bereits in Frankreich suhlt er sich zwischen Selbstmitleid und Selbsthass. Allein der Glaube, sie damit zu retten, hält ihn davon ab, sofort zurück zu fahren. Und natürlich Silas, der Zwillingsbruder, den er noch immer verschweigt, die Hälfte seines Lebens, an der Inga nie teilhaben konnte. Der inneren Zerrissenheit des Protagonisten wird eine physische nebenangestellt. Silas, die Spiegelung von Lukas. Zwei Menschen, die sich erschreckend ähnlich und gleichzeitig so different sind in jedem Bereich, angefangen beim Aussehen. Gleichzeitig pendelt Lukas Identität zwischen Deutschland und Frankreich, den beiden Sprachen und dem, was er in keiner der beiden Sprachen ausdrücken kann. Lukas schreibt auf Deutsch, weil ihm das französische Vokabular der Umgangssprache teilweise fehlt und kann gleichzeitig seine Identität in seiner „Vaterssprache“ Deutsch nicht klar ausdrücken. Die Banalität dieser Tatsache ist tiefgreifend. Eine psychische Blockade, die sich durchsetzt. So wie Lukas Inga versucht aus allem herauszuhalten, was in Frankreich passiert, ist sie doch der gedankliche Fixpunkt und die Obsession lässt den Leser auch ohne direkte Beschreibung gut verstehen, wie es vorher mit Silas gewesen sein muss. Lukas ist von seinem Schamkomplex derart gefangen genommen, dass er selbstzerstörerisch wird. Zwischen Manie und Depression sucht er die Kicks nach oben und findet sie bei emotionslosem Sex und Drogeneskapaden. Die Art und Weise wie diese Zustände und Entscheidungen angegangen werden finde ich absolut faszinierend. Denn das Tagebuchformat des Romans erlaubt es, Lukas‘ Selbstreflexion wahrzunehmen und seinen Gedankengängen zu folgen. So werden seine Schritte erschreckend plausibel. Immer wenn ich Angst hatte, die Figur würde oberflächlich werden, haut er eine Selbstbetrachtung raus, die genau das zunichtemacht. Denn Lukas ist genau das nicht und zeigt eine Tiefe, die beeindruckt und für mich doch nachvollziehbar bleibt. Gleichzeitig sind auch die anderen Figuren des Romans greifbar. Nur wenige bleiben in der Peripherie oder haben regelrechte Gastauftritte. So wie Lukas‘ eigene Geschichte voller psychologischer Feinheiten und Wendungen ist, ist es auch die seines Bruder Silas. Auch er hat ein Geheimnis, das ihn mehr und mehr belastet. Die unterschiedlichen Herangehensweisen und Folgen für Silas, Lukas und ihre Mitmenschen sind nicht nur faszinierend, sondern tatsächlich ungewöhnlich in der deutschen Literatur. In Schneepoet und dem folgenden zweiten Band (insgesamt soll es vier Bände geben) wird Depression als das dargestellt, was sie ist. Eine Krankheit, die nicht durch Liebe magisch heilbar ist. Die Ehrlichkeit des Romans ist regelrecht umwerfend. Für jeden, der je eine depressive Phase hatte (oder mehr) sei hiermit eine Trigger-Warnung ausgesprochen. Ich hatte relativ kurz vor dem Lesen ein Dreitagestief und war zwischenzeitlich sofort wieder dort. Lukas Selbstreflexion darauf war meinen Gedankengängen – auch zu früheren Episoden – in den Grundzügen sehr ähnlich. Das hat mir unwahrscheinlich geholfen. Diese Figur, die so ungemein anders handelt als ich und doch das gleiche Gefühl beschreibt. Die Warnung bleibt aber bestehen! (Gilt übrigens auch für sexuelle Gewalt) Das ist für mich aber auch die Stärke des Romans. Er zeigt eine Authentizität, die ich vermisse. Nicht nur was die fatale Romantisierung von Depression angeht, sondern auch in der ganzen Auffassung der Welt. Es gab Stellen, die im ersten Moment banal wirkten, weil sie Lukas‘ Alltag zeigten. In seiner Gänze aber beschreibt auch das nur das Auf und Ab der Depression, die Last des Alltags und seinen Reiz. Schneepoet schließt mit einem Crescendo und wer keine offenen Enden mag, sollte sich beide Bücher gleich im Doppelpack besorgen.