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Merle

Posted on 4.8.2021

Danke an Vorablesen und den FISCHER Krüger Verlag, die mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt haben. Meine Meinung ist davon unabhängig. Schon bei der Leseprobe hatte ich das Gefühl, dass „Wir für Uns“ ein ganz besonderes Buch wird. Und ich wurde nicht enttäuscht! Das Buch spricht viele wichtige Themen an, und ich hatte das Gefühl, dass ich grade die Geschichte meiner Familie lese. Worum geht es? Zwei ungleiche Frauen, die zusammenfinden. Josie ist Anfang 40 und schwanger. Ihr Partner will kein Kind mehr, da er bereits Kinder hat. Außerdem ist eine Schwangerschaft in Josies Alter mit vielen Risiken verbunden – unter anderem hat ihr ungeborenes Kind eine höhere Wahrscheinlichkeit, Trisomie 21 zu haben. Ihr Umfeld drängt sie, eine Fruchtwasseruntersuchung durchzuführen zu lassen, und auch eine Abtreibung wird immer wieder ins Spiel gebracht. In ihrem Alltag beginnt Josie plötzlich, vermehrt Menschen mit Down-Syndrom wahrzunehmen, und merkt dabei, wie sehr ihr Denken und das ihres Umfeldes von Vorurteilen geprägt ist. Zudem weckt Josies Schwangerschaft bei ihrer Mutter alte Erinnerungen, an Josies Schwester Babette – diese ist nicht nur als Kind gestorben, sie wird zudem noch totgeschwiegen. Man merkt: diese Schwangerschaft stellt alle Beziehungen von Josie auf die Probe! Die andere Protagonistin des Buches ist Kathi. 50 Jahre lang war sie mit Werner verheiratet, und nun ist sie mit Anfang 70 Witwe. Ihr Sohn Max scheint sich von ihr zu entfremden, und Kathi weiß einfach nicht, was sie alleine mit ihrem Leben anfangen soll. In der Ehe hat sie ihre Wünsche hintenangestellt, hat ihr kleines Lebensmittelgeschäft auf Wunsch ihres Mannes geschlossen – wäre es unvernünftig, in ihrem Alter wieder ihre Passion des eigenen Geschäftes aufleben zulassen? Das Buch beschäftigt sich sensibel mit einer Vielzahl an Themen: Schwangerschaft, Beziehungen, Trisomie 21, Trauer und Verlust, Homosexualität und Familie. Ich persönlich fand die Menge genau richtig und nicht zu überladen. Wie bereits gesagt hatte ich das Gefühl, die Geschichte meiner eigenen Familie zu lesen. Meine Großeltern väterlicherseits sind seit über 50 Jahre verheiratet – wie Kathi und Werner es waren. Die Schwester meiner Mutter ist wie Josies Schwester Babette als Kind gestorben, und auch darüber wurde selten geredet – was die Beziehung zwischen meiner Mutter und meiner Oma stark auf die Probe gestellt hat. Außerdem gibt es in der Familie meiner Mutter eine Person mit Down-Syndrom, und durch ihn und seine Eltern kann ich einerseits sehen, wie viel Freude er ins Leben bringt, aber ich sehe auch stark die Probleme und Ängste, die eine solche Erkrankung besonders für das Umfeld mit sich bringt. Und das fand ich im Buch auch wirklich sensibel und realistisch dargestellt: dass Josie am Anfang Melanie (der Mutter von Nela, ein Kind mit Down-Syndrom) etwas unsensibel gegenüber tritt, weil sie sich unsicher ist, ob sie eine Fruchtwasseruntersuchung machen will. Sie hört von Melanie, wie viel sie für Nela aufgeben musste. Und dann im Laufe der Zeit, in der sich die drei immer weiter kennenlernen, festigt sich Josies Meinung, dass es ihr egal ist, ob ihr Kind Down-Syndrom haben wird oder nicht – auch wenn ihr Umfeld das anders sieht. Und diese beiden Szenen mit Melanie fand ich so, so toll. Weil ich es wie gesagt realitätstreu finde. Über das Thema Trisomie 21 wird kaum offen geredet, man druckst herum, man findet die Worte nicht. Und dann entstehen genau solche Situationen; das eigentlich Gemeinte wird falsch verstanden und man verletzt jemanden. Es braucht mehr Bücher, die sich trauen, solche Themen anzusprechen! Die Perspektive von Josie fand ich einfach super stark und überzeugend. Die Perspektive von Kathi fand ich etwas schwächer, aber trotzdem gut. Ich fand ihre Gedankengänge manchmal etwas intransparent; sie hält stark an alten Denkmustern fest und im Vergleich mit Josie habe ich einfach gemerkt, dass ich Kathis Verhalten weniger kohärent fand als das von Josie (Achtung, hier wird auf sehr hohem Niveau gemeckert! Es waren wirklich nur Nuancen, die ich hier bemängle!) Eine andere Sache, über die ich gestockt habe, ist die Länge der Affäre von Josie und Bengt… Neun Jahre? Ehrlich? Ich habe Josie über das Buch als sehr aufgeweckte und reflektierte Frau wahrgenommen, und dass sie neun Jahre lang eine Beziehung mit einem verheirateten Mann aufrecht hält, weil dieser „bald seine Frau verlassen will“… da habe ich etwas an Josie gezweifelt. Aber Liebe macht ja bekanntlich blind. An manchen Stellen werden "nicht korrekte" Bezeichnungen verwendet, aber meistens passt es zum Inhalt. Kathi bezeichnet das Wort Homosexuell als "schäbig", sie redet etwas negativ über Asylant*innen - aber sie überdenkt ihr Denken im Laufe des Buches und ist einfach "ein Kind ihrer Zeit". Ich finde es vollkommen okay, solche nicht mehr 100% politisch korrekten Bezeichnungen zu verwenden, wenn es dazu dient, den Wachstum von Charakteren zu zeigen und wenn auf die Problematik solcher Aussagen eingegangen wird - was ja bei den genannten Beispielen so ist. Nur an einer Stelle stößt mir ein Wort negativ auf: Josies Bruder nutzt das Wort "mongoloid", um über eine Person mit Down-Syndrom zu sprechen. "Mongoloid" ist ein veraltetes und abwertende Bezeichnung für Menschen mit Trisomie 21. Und an keiner Stelle wird darauf eingegangen, wie problematisch dieses Wort ist. Das fand ich schade, weil mir diese Stelle auch Tage später noch negativ im Kopf geblieben ist. Ich kann verstehen, warum Josies Bruder ein abwertendes Wort bezüglich Trisomie 21 nutzt; es soll zeigen, wie verinnerlicht in Josies Familie die negative Haltung bezüglich Menschen mit Down-Syndrom ist. Aber dann hätte Josie das auch bitte als problematisch erklären sollen; weil so ist es einfach ein problematisches Wort ohne Sinn. Das Cover finde ich wirklich schön. Eine gute Farbkombination, und die Blumendetails im Buch mochte ich auch. Was Titel und Cover mit dem Inhalt zu tun haben, das weiß ich jetzt nicht genau, aber die Atmosphäre des Buches kommt rüber: ruhig, entspannt, irgendwas über Zusammenhalt. Der Stil der Autorin hat mir gut gefallen. Es ist flüssig zu lesen, locker geschrieben und voller Bilder. Die Perspektiven von Josie und Kathi waren irgendwie anders geschrieben, sodass beide eine eigene, klar zu unterscheidende Stimme hatten. Ich bin gespannt darauf, auch andere Werke der Autorin zu lesen, da ich ihre empathische Art des Schreibens wirklich außergewöhnlich finde. Ich vergebe 4,5 von 5 Sternen (Tendenz nach oben!).

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