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Der erste Satz: «Es war dieser erhabene Moment.» Gleich vorweg, ich bin begeistert, einer der besten Romane, die ich in diesem Jahr gelesen habe. Eine Familiensaga, aber es ist viel mehr: Es ist russische Geschichte, die dunkle Zeit der Stalindiktatur, der Gulags, und gleichzeitig findet man beeindruckende Naturbeschreibungen, die harte Arbeit der Fischer, das raue Leben auf See – und die Autorin geht tief hinein in ihre Charaktere – warum einer so ist, wie er ist. Eine überzeugende Kombination, ein Roman, der schnell einen Sog entwickelt, spannend, berührend – ich habe das Buch in einem Rutsch gelesen. «Unvermittelt blieb er vor dem kräftigen Gelb des Arktischen Mohns stehen, dem Fuchsienrot von Weideröschen oder Steinbrech, dem weichen Schopf der für die Supflandschaft typischen Wollgräser. ... Heidelbeeren, Kranichbeeren oder Moltebeeren mochte er Wachholderbeeren, die seinen Mund mit ihrem pfeffrigen Geschmack erfüllten ... sah er einen Fuchs oder ein Nagetier Reißaus nehmen, einen unscheinbaren, grau geflügelten Schmetterling davonfliegen.» Den Ornithologen Juri erreicht 2017 in den USA die Nachricht, dass sein Vater Rubin im Sterben liegt. Er bittet ihn, nach Hause zu kommen. Juri hatte sich vorgenommen, nie wieder an diesen Ort zurückzukommen: Murmansk, nördlich des Polarkreises. Doch erfühlt sich verpflichtet, auch wenn er mit seinem Vater kein gutes Verhältnis hatte. Rubin bittet Juri um einen letzten Gefallen, herauszufinden, was damals mit Klara geschah. Juri dachte, seine Großmutter sei vor langer Zeit verstorben. Doch niemand weiß, was mit ihr geschah seit der Nacht, in der die Staatspolizei die Geologin abholte. Rubin war 1950 sechs Jahre alt. Juri ist erstaunt, stellt Anträge zum Verbleib der Großmutter und fordert Akten an. Manch einer erhält eine Antwort, die meisten nicht, viel mehr kann er nicht tun. «Doch aus den Körpern sprach vor allem eine uralte Gier, die tiefe Befriedigung beim Anblick eines Berges von lebendigem Fleisch, das auf das Deck niederprasselte und saß Gefühl der Macht, die darin lag, Lebewesen aus der Tiefe herauszuziehen, die ihren Messern ausgeliefert wären. In diesem Momenten waren sie durch den Gemeinschaftsgeist verbunden. Drei Generationen, deren Schicksal von der politischen Entwicklung des Landes abhängt. Juri schlendert durch Murmansk und erinnert sich an seine Kindheit und seine Jugend. Er hat Rubin gehasst, den Kapitän eines Fischtrawlers, einer der Erfolgreichsten, aber ein Vater, der nicht in der Lage ist Liebe zu zeigen, der den Jungen züchtigt und ihm harte Übungen auferlegt, den Körper zu stählen. Er soll in der ersten Reihe der Pioniere stehen, später selbst als Kapitän zur See fahren. Doch Juri interessiert sich mehr für die Schönheit von Vögeln. Glücklicherweise ist der Vater meist abwesend. Aber auch die Mutter hat nicht viel Liebe zu geben. Dann dann kommt der Tag, an dem der Vater von ihm verlangt, Seemann zu werden. Seine erste Fahrt als Schiffsjunge wird eine monatelange Tortur an Bord des Fischtrawlers von Rubin. Isabelle Autissier beschreibt eindringlich die Gewalt des Meeres, das harte, gefährliche Leben der Fischer an Bord. Die Bootsjungen werden unmenschlich geritzt, besonders vom Ausbilder Serikow, der den verträumten Juri auf dem Kieker hat. In Juri gärt es. Wann ist der Punkt erreicht, sich zur Wehr zu setzen? «Das Kratzen von Metall auf Metall, das leise schwingen der Tür beim Hineinstecken des Schlüssels, das noch immer doppelte Klicken des Riegels, das saugende Geräusch der sich vom Rahmen lösenden Tür, das Reiben des Windstoppers auf dem Fußboden und schließlich der dumpfe Klang beim Schließen. Ein leichter Schwindel überkam Juri, als er nach so vielen Jahren wieder die Wohnung der Familie betrat.» Nach dieser Fahrt ist es für Juri klar: Nie wieder! Er studiert Biologie in Leningrad (heute St. Petersburg), erhält ein Stipendium in den USA, um seinen Doktortitel zu erreichen und bleibt. Rubin erklärt ihm auf dem Sterbebett, dass er weiß, was Juri auf dem Schiff gemacht hat. Er ist sogar Stolz auf ihn – er trägt eine gleiche Schuld. Und nun geht es zu Rubin. Wir erfahren, was mit der angesehenen Familie geschieht, nachdem Klara verhaftet wurde. Sein Vater, Anton, ein schwacher Mensch, muss mit Rubin ins Rotlichtviertel in eine Baracke ziehen – die Familie gehört nun zu den Aussätzigen, die Dreck am Stecken haben, die politisch unrein sind. Rubin wird von den Mitschülern misshandelt, er darf mit der Familienvergangenheit auch nicht zu den Pionieren, ist aber Feuer und Flamme für den Staat, kämpft um Anerkennung. Anton, zermürbt die Erinnerung, er zerbricht fast an seiner Schuld. Dann entdeckt Rubin seine Liebe für das Meer, will Fischer werden und sich heraufarbeiten, die Schuld seiner Mutter in den Schatten stellen. Auch hier wieder berauschende Naturbeschreibungen auf See, zur Arbeit der Fischer. Klara zu vergessen ist Rubin unmöglich, auch wenn nie wieder ein Wort über sie gesprochen wird. Er hat ihren Geruch in der Erinnerung, ihr Zimtparfüm, den Duft, den er bei jeder Frau sucht, aber nie finden wird. Und er nimmt sich Sok an, der im Gulag aufwuchs, nicht lesen und schreiben kann – dessen Familie dort elendig zu Grunde ging. «Die Männer sprangen vor und wurden sofort von eisiger Gischt bedeckt. Der Winddruck ließ sie taumeln. Im Scheinwerferlicht glänzten ihre gelben Regenjacken, was sie wie eine Armee riesiger Kartoffelkäfer aussehen ließ. Das Grollen der Wellen und das Kreischen des Windes übertönten das Motorengeräusch. Wenn ein Brecher aufs Schiff stürzte, schrie der Bootsmann: ‹Festhalten!» Nachdem Rubin bereits ein Jahr verstorben ist, Juri nichts weiter über Klara erfahren konnte, erhält er per Post Aufzeichnungen. Wir erfahren die Geschichte von Klara, den Grund ihrer Verhaftung, ihre Verlegung nach Stalingrad, weiter in ein abgelegenes Lager auf der Insel Sipajewna, wo sie als Wissenschaftlerin arbeiten muss – einen guten Kontakt zur Urbevölkerung der Nenzen bekommt, die Rentiere züchten, als Nomaden leben. Natur pur. Zunächst läuft es für Klara gut, doch dann wird auch ihre Ruhe massiv gestört. Jeder in dieser Geschichte ist Opfer und gleichzeitig Täter – jede Generation trägt ihre Schuld. «Eine Schale mit frischem, stärkendem Blut wanderte von Hand zu Hand und verströmte einen faden Geruch, eine Mischung aus Eingeweiden und frischem Fleisch. Das Rentier spendet Leben. es gibt sein gutes Fleisch, eine Haut, sein Fell, seine Sehnen, seine Knochen. Auch nur ein Quäntchen davon zu verschwenden wäre eine Beleidigung an die Natur.» Eindrücklich beschreibt Isabelle Autissier die Stalin-Ära, eine grausame Zeit der Massenverhaftungen, Massentötungen, der brutalen Umsiedelaktionen – das Brechen von Menschen. Duckmäusertum und Gewalt zurchzieht das Land, Verrat, Verleumdung und Angst prägt die Menschen, mit Alkohol lässt sich dieses Leben besser ertragen. Mit Gorbatschow gibt es Hoffnung, die UdSSR schrumpft zu Russland – aber bald folgt Putin. Eine kleine kapitalistische Brise geht durch das Land, Konsum, Ware aus dem Ausland ist erhältlich. Die Liebe zur Natur und zu Tieren, jede Generation auf ihre Weise, steht hier für die Freiheit – die Natur zwingt niemanden in ein Korsett von Gehorsam und Angst. Die Autorin hat einen sehr spannenden Roman geschaffen, der zwischen gesellschaftlichen Zwängen und Naturbeschreibungen sich wellenartig vorwärtsbewegt, mal süß-poetisch, einmal rau bis brutal. Naturgewalt, Fischfang, ein Abschlachten im Akkord. Atmosphärisch dicht, in punktgenauer Sprache. Drei Menschen, die in die Enge getrieben werden und das verteidigen müssen, was ihnen am meisten bedeutet. Wozu ist der Mensch bereit, wenn in der Erniedrigung eine Grenze überschritten wird? Ein grandioser Roman! Isabelle Autissier, 1956 in Paris geboren und dort aufgewachsen, lebt heute in La Rochelle. Mit sechs Jahren entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Segeln; 1991 machte sie Furore als erste Frau, die allein im Rahmen einer Regatta die Welt umsegelte. Seit den Neunzigerjahren widmet sie sich dem Schreiben. Ihr Roman Herz auf Eis (2017) war für den Prix Goncourt nominiert und wurde SPIEGEL-Bestseller.