auserlesenes
Zwei Jahre lang hat die ehemalige Schauspielerin Ayami Kim (28) als Assistentin in einem Hörtheater in Seoul gearbeitet. Nun ist dort die letzte Vorstellung durchgeführt worden und Ayami ist erneut arbeitslos. Welchen Weg soll sie nun einschlagen? „Weiße Nacht“ ist ein Roman von Bae Suah, der bereits 2013 in Korea und nun als erstes ihrer Bücher auf Deutsch erschienen ist. Meine Meinung: Der Roman besteht aus vier Kapiteln, wovon das letzte jedoch sehr kurz ist. Erzählt wird zunächst aus der Perspektive von Ayami, später auch aus einer weiteren Sichtweise. Die Handlung spielt ausschließlich in Seoul. Vordergründig umfasst sie einen Tag und eine Nacht. Allerdings gibt es immer wieder Sprünge nach vorne und zurück, sodass die Geschichte zeitlich schwer zu erfassen ist. Der Schreibstil ist eindringlich, atmosphärisch dicht und sehr metaphorisch. Es gibt eine Menge ungewöhnlicher Vergleiche, die zwar kreativ, aber zum Teil auch sehr unsinnig und widersprüchlich wirken. Lange beschreibende Passagen wechseln sich mit ausführlichen Dialogen ab, die manchmal recht hölzern klingen. Im Fokus der Geschichte steht Ayami, die ein wenig unnahbar und undurchsichtig bleibt. Bis zum Schluss konnte ich sie nicht richtig fassen. Zudem tauchen immer wieder bestimmte weitere Personen auf, deren Verbindungen und Bezüge sich erst nach und nach erschließen. So ergibt sich ein komplexes Geflecht an Charakteren. Alle Figuren machen auf mich jedoch einen seltsamen Eindruck. Auch die Geschichte selbst ist recht merkwürdig. Das erste Kapitel ist wirr und nahezu unverständlich. Scheinbar zusammenhanglos reihen sich Passagen aneinander, wechselt die Szenerie immer wieder ohne Übergang. Ein aufmerksames Lesen lohnt sich. Trotzdem habe ich die Lektüre auf den ersten 70 von nur rund 160 Seiten als äußerst frustrierend empfunden. Dann allerdings werden Stück für Stück die unterschiedlichen Puzzleteile zusammengesetzt und es offenbart sich die geschickte Konstruktion des Romans. Am Ende ist vieles klarer, wobei es mir dennoch nicht gelungen ist, beim ersten Lesen alle losen Fäden miteinander zu verknüpfen. Inhaltlich ist der Roman philosophisch angehaucht. Es geht um Träume, Geister, Halluzinationen, Liebe, Einsamkeit und einiges mehr. Ein häufig auftauchendes Motiv ist auch die Hitze. Vor allem aber dreht sich der Roman um die verschwimmenden Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Selbst Ayami kann nicht mehr differenzieren, was sie tatsächlich erlebt und was sie sich womöglich einbildet. Zudem beinhaltet das Buch eine Menge surrealer und fast schon fantastischer Elemente. Ein weiteres Stilmittel, um diese Effekte zu bewirken, sind die vielen Wiederholungen von Formulierungen. Diese Anleihen aus „Die blinde Eule“ von Sadeq Hedayat werden nicht verschleiert, sondern sogar betont. Darüber hinaus ist unverkennbar, dass die Autorin sich bei Kafka bedient hat, dessen Werke sie ins Koreanische übersetzt hat. Obwohl mir die Vielschichtigkeit und Tiefgründigkeit des Romans imponiert, ließ er mich auch ein wenig ratlos und enttäuscht zurück. Alles in allem ist mir die Geschichte nämlich zu abgedreht und zu sehr drüber. Der deutsche Titel ist nicht die beste Wahl. Das Cover finde ich jedoch absolut passend. Mein Fazit: „Weiße Nacht“ von Bae Suah ist ein merkwürdiger, vielschichtiger und ungewöhnlicher Roman, der auch Fans surrealer Literatur einiges zumutet. Raffiniert konstruiert, aber für meinen Geschmack etwas zu wirr und bizarr.