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Variemaa

Posted on 17.10.2017

Gül reist nach Deutschland zu ihrem Mann. Dort hat sie bereits vor Jahren gelebt und war nun acht Jahre zurück in ihrer Heimat, der Türkei. Sie wagt einen Neuanfang in dem Land, dass ihr immer noch so fremd erscheint, in dem aber eine ihrer Töchter lebt. Gül kämpft. Für ihre Ehe, einen Job, eine Wohnung, ein Leben. Sie sieht Kriminalität und Ungerechtigkeit, während ein Teil von ihr einfach nur zurückwill. Bis auch das unmöglich wird. Dieses Buch stellt viele Fragen. Was ist Heimat ist nur eine davon. Güls Verbindung zu ihrem Mann ist vielleicht eher eine Verpflichtung, als das, was und heute als Liebe vorgestellt wird, aber sie ist eine unumstößliche. Genauso wie ihre ganze Zwiegespaltenheit. In ihrem Heimatdorf ist sie die Tochter, die nach Deutschland ging, in Deutschland dagegen wird sie immer nur als „Ausländerin“ angesehen. Als sie einen Sprachkurs machen will, wird er verwehrt, weil sie schon zu lange in Deutschland ist. Er sei nur für Neuankömmlinge. Indem der Roman Gül über Jahrzehnte begleitet, zeigt er viele Wandlungen. Gül ist naiv und ängstlich. In Deutschland hat sie kein Vertrauen. Die Sprache nie richtig zu sprechen ist für sie auch eine Abgrenzung, ein Versuch, sich nicht zu verändern. Doch das tut sie zwangsläufig. Noch deutlicher wird das bei ihrem Mann, der im Urlaub den Standard vermisst, den er aus Deutschland kennt. Dort aber inszeniert er sich immer als Opfer des Systems. Gül dagegen sieht sich als Opfer des Schicksals, durch das sie auch Täterin werden muss. Das Schuldgefühl, ihre Kinder einst zurückgelassen zu haben, holt sie immer wieder ein. Wo die Heimat für Gül verloren geht, findet sie in den neuen Medien eine neue Verbindung. Mediale Kommunikation verknüpft sie mit Freunden der Grundschultage. Auch hier ist sie naiv. Herausgewachsen aus der dörflichen Ordnung, kann sie niemanden einschätzen und sieht in jedem gleichermaßen Freund und Feind. Diese Komposition ist kein spannungsvoller Abenteuerroman, sondern ein wesentlich feinfühliger. Zwischen den Zeilen stehen die eigentlichen Erkenntnisse. Die Entfremdungen, Hoffnungen, Suchen. Güls Leben beschäftigt sich nur mit einer Geschichte, sondern mit vielen. Realitätsnah und authentisch ist diese Art, zu erzählen. Mitreißend auf eine ungewöhnliche Art und immer wieder fragend. Mitunter springen die einzelnen Abschnitte thematisch sehr, so dass im ersten Moment der Kontext fehlt. Güls umfassende Naivität hat sie mir als Protagonistin manchmal schwer genießbar gemacht. Denn in den entscheidenden Moment beweist sie intuitive Größe und Mut. Die kann sich durchsetzen, aber lange Zeit läuft sie einfach nebenbei und beobachtet. Natürlich ist das ebenso kultur- wie generationenfrage, aber mir war sie dabei manchmal einfach zu leise. Gleichzeitig wurde ihr Mann zum Stereotyp verkitscht, das große Töne spuckt und immer wieder Fehlentscheidungen trifft. Hier hatte ich mir mehr erhofft. Die Sprache ist eingängig und führt durch die sprunghaften Episoden. Güls Gedanken und die Einwürfe des Erzählers dabei sind tiefgehend, mitunter poetisch und sehr stimmungsvoll. Der kleine Kosmos der Protagonistin, ein geschützter Raum. Wo noch Licht brennt hat mir eine andere Welt gezeigt und einen kleinen Einblick gewährt. Mit der Protagonistin wurde ich nicht wirklich warm und hatte doch Anteil an ihrer Geschichte. Das als Autor anzuleiten, ist nicht leicht.

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