Christina Bleser
Ein Muss für alle Fans von Les Miserables! Eine berühmte Nebenrolle schwingt sich zu neuen Höhen auf: Eponine Thenadier heißt sie, die Nebenrolle in Victor Hugos berühmten Klassiker "Die Elenden", auch durch das Musical "Les Miserables" bekannt. In Kester Grants Roman "Der Hof der Wunder" verleiht die Autorin ihr die Stimme der Elenden und gibt ihr eine ganz neue Bedeutung. Die Geschichte ist bekannt: gut 30 Jahre nach der französischen Revolution herrschen in Paris immer noch Elend und Armut über die Unterschichten. Während sich in der Julirevolution von 1831 mutige junge Männer erneut das Ziel setzen, mehr Gleichberechtigung in die Welt zu bringen und den Adel zu stützen, verfolgen die Charaktere aus Hugos Roman ihre ganz eigenen Ziele und erleben ihre ganz eigenen Schicksale. Aber was würde es für die Geschichte im allgemeinen und für die Charaktere im besonderen bedeuten, wenn die französische Revolution gescheitert wäre? Wenn nicht die Köpfe von Ludwig dem XVI. und Marie Antoinette auf der Guillotine gelandet wären, sondern die der Revolutionäre? Kester Grants Roman „Der Hof der Wunder“ verwendet diese Idee kontrafaktischer Geschichte, um einen spannenden Roman zu kreieren, der zugleich eine liebevolle Adaption der berühmten Vorlage von Victor Hugo ist. Indem sie die Geschichte aus Eponines Sicht schreibt und auch die weniger bekannten Personen wie ihre Schwester Azelma auftreten lässt, beweist sie eine gute Kenntnis des originalen Romans. Und auch die Erzählstruktur folgt der des Originals an vielen Stellen, sei es in der langen Einführungsphase, dem dicht gepackten Schluss oder den notwendigen Zeitsprüngen um die Geschichte vieler Jahre darzustellen. Dennoch ist es der Autorin gelungen, eigene interessante und zugleich unheimlich fesselnde Aspekte einzuflechten. So handelt es sich bei dem Hof der Wunder um eine Unterwelt, in der sich die verschiedenen Gilden von der Diebesgilde über die Schmuggler und Meuchelmörder bis zur Fleischesgilde organisieren. Zwar stammt der Begriff „der Hof der Wunder“ ebenfalls von Hugo und zwar aus seinem anderen berühmten Roman „Der Glöckner von Notre Dame, doch Grant erfüllt ihn mit neuem Leben und schafft eine eigene Welt für die Elenden, die durch strenge Gesetze geordnet ist. Und es ist Eponine, die im Original von „Die Elenden“ nur eine Nebenrolle spielt, der mit ihrer Gesetzestreue und ihrer Freundschaft zu verschiedenen Gilden hier die Hauptrolle zukommt. Wie Hugo im Original mit Jean Valjean einen strahlenden Helden geschaffen hat, der trotz aller Schicksalsschläge ein reines Herz behält, so gelingt es Grant aus Eponine eine ähnliche Helden zu machen, die viel ertragen muss und doch nie aufhört, für das Gute zu kämpfen. Zugegebenermaßen ist es mir als begeisterte Leserin Victor Hugos´ Werk auf den ersten Seiten etwas schwer gefallen, mich in den Roman hinein zu finden. Man fragt sich, ob das nun ein Abklatsch von „Die Elenden“ ist und wozu man das Buch dann lesen sollte. Doch ziemlich schnell wird klar, dass sich die Geschichte in eine eigene Richtung entwickelt und dabei ein eigenes Lesevergnügen entsteht. Da ich Eponine immer als eine besonders interessante Rolle empfunden habe, hat es mir Freude gemacht, die Geschichte aus ihrer Sicht zu lesen und ich hatte das Gefühl, dass sie dem Original durchaus gerecht wird. Zudem entwickelt die ganze Geschichte eine Sogwirkung, so dass ich in Gedanken bald nur noch bei dem „Hof der Wunder“ war und „Die Elenden“ bloß hier und dort durch kleine versteckte Hinweise wieder in meinen Gedanken auftauchten. Sowie durch das Zitat „der Regen lässt die Blumen wachsen“, das aus dem Original stammt und z.B. auch im Musical übernommen wurde. Die ansonsten von Grant selbst stammende Sprache war in der Übersetzung von Andreas Decker, in der ich sie gelesen habe, ebenfalls ein Grund für meine Begeisterung und hat ein vollkommenes Lesevergnügen gut abgerundet. Ein Roman, der viel Freude bereitet!