Renie
Der Titel "In Gesellschaft kleiner Bomben" ist zunächst einmal irritierend, hat er doch etwas Verharmlosendes an sich. Dabei kann von Verharmlosung in diesem eindringlichen Roman nicht die Rede sein. Denn, ob kleine Bombe oder große Bombe ... das Ergebnis ist das Gleiche: Tod, Trauer, Schmerz, Wut, Veränderung. "'... Ich denke, die kleinen Bomben, von denen wir ständig hören, die auf unbekannten Märkten explodieren, fünf oder sechs Menschen töten, sind schlimmer. Durch sie konzentriert sich der Schmerz auf das Leben einiger weniger. Es ist besser, großzügig zu töten, als dabei zu geizen.'" Der Roman beginnt mit der Explosion einer Bombe auf einem Markt irgendwo in Indien. Zu den Opfern zählen zwei Kinder, die Söhne der Familie Khurana. Der Leser wird dieses Attentat nicht nur einmal sondern mehrfach erleben: aus Sicht der beiden Brüder, aus Sicht des überlebenden muslimischen Freundes der Brüder, aus Sicht des zuhause wartenden Vaters und aus Sicht des terroristischen Bombenlegers. Mit jeder neuen Sichtweise wird das Entsetzen über diesen Anschlag und seine schrecklichen Konsequenzen für den Leser intensiver. Nachdem die Bombe gezündet ist, widmet sich die Handlung den Jahren nach dem Attentat, in denen Bomben zum indischen Alltag scheinbar dazugehören. Karan Mahajan liefert dabei Antworten zu den unterschiedlichsten Fragen: Wie gehen die Eltern Khurana mit dem Verlust ihrer Kinder um? Schweißen Schmerz und Trauer das Elternpaar zusammen, oder entfernen sie sich voneinander? Was ist mit dem muslimischen Jungen, der überlebt hat und dessen Eltern? Überwiegt die Erleichterung oder das schlechte Gewissen, dass sie mit einem blauen Auge davongekommen sind? Wie geht die muslimische Familie damit um, derjenigen Religion anzugehören, die das Attentat zu verantworten hat? Wie kommt man mit der Angst zurecht, dass man wiederholt in solch ein schreckliches Ereignis verwickelt wird - was in Indien durchaus im Bereich des Möglichen liegt? Warum hat ein Terrorist, der etliche Menschen auf dem Gewissen hat, keinerlei Schuldgefühle? Und warum kann er seine Karriere als Bombenleger nicht an den Nagel hängen, selbst wenn er erkennt, dass seine kleinen Bomben nicht viel bewirken in seinem Kampf gegen die Ungerechtigkeit? Fragen über Fragen, mit denen sich Karan Mahajan in seinem Roman befasst und die dem Leser einige Denkanstöße versetzen. "Später berichteten sämtliche Zeugen, einen alles überstrahlenden Stern gesehen zu haben. Dann folgte eine lange Stille, bevor die Schreie losgingen, als hätten sich die Leute, sogar als sie Schmerzen hatten, erst gegenseitig beobachtet, um herauszufinden, was zu tun sein." Der Roman ist ein Sammelsurium an Handlungsebenen und Erzählperspektiven. Im Verlauf der Geschichte tauchen immer weitere Charaktere auf, die in irgendeiner Form von dem Attentat betroffen sind - direkt oder indirekt bzw. als Täter oder Opfer. Zeitweise verliert man die einzelnen Charaktere aus den Augen, sie geraten tatsächlich in Vergessenheit. Doch im weiteren Verlauf des Romanes tauchen sie irgendwann wieder auf. Oft nehmen sie dann eine Rolle ein, die fast schon unglaublich ist, z. B. werden Opfer zu Tätern. Der Autor versäumt auch nicht, ein Szenario zu kreieren, das verdeutlicht, wie einfach es doch ist, aus einem durchschnittlichen Leben heraus eine terroristische Karriere einzuschlagen. Im Grunde genommen könnte in jedem von uns terroristisches Potenzial stecken. "In Gesellschaft kleiner Bombe" ist eine Studie über die indische Gesellschaft. Dass sich diese Gesellschaft nach einem Kastensystem strukturiert, sollte allgemein bekannt sein. Erschreckend ist jedoch, dass ein System, das auf eine viertausendjährige Geschichte zurückblickt und nur geringe Reformen erfahren hat, immer noch in den Köpfen der meisten Inder fest verankert ist. In dem Indien von Karan Mahajan spielt die Herkunft eines Menschen eine wichtige Rolle und entscheidet über sein Ansehen in der Gesellschaft. Ungerechtigkeit und Vorurteile bestimmen das Miteinander der indischen Bevölkerung. In diesem Roman versuchen viele der Charaktere "mehr Schein als Sein" vorzugeben, in der Hoffnung, von einer niederen Herkunft abzulenken. Wenn man dann noch Moslem in einer hinduistischen Gesellschaft ist, wird man bestenfalls noch geduldet, aber niemals anerkannt. Seit den 70er Jahren kommt es zwischen Hindus und Moslems immer wieder zu Ausschreitungen, die leider ihren Höhepunkt im Kaschmirkonflikt 1989 gefunden haben und immer noch anhalten - mal mehr, mal weniger heftig. Mittlerweile sind über 29000 Zivilisten in diesem Konflikt getötet worden. Der Konflikt zwischen Moslems und Hindus ist ein Politikum, das insbesondere in Zeiten eines indischen Wahlkampfes gern instrumentalisiert wird. "... - ja, er hasste den Regierungschef, weil er das Schlimmste der Hindus repräsentierte, den Glauben an ihre eigene Unverwundbarkeit, der immer dann aufkam, wenn es ihnen gut ging, wenn sie schnelles Geld machten, ein Glaube, dass man mit allem durchkam, solange man Geld hatte." Während ich dies schreibe, wird mir wieder einmal bewusst, wie vielschichtig dieser Roman doch ist. Je intensiver man sich mit der Geschichte beschäftigt, umso mehr Gedanken zu den unterschiedlichsten Themen kristallisieren sich heraus. Die bisher von mir angesprochenen Aspekte sind tatsächlich nur ein Teil dessen, was dieser Roman zu bieten hat. Nicht vergessen möchte ich den Sprachstil von Karan Mahajan. Der Autor ist ein Freund schwelgerischer Vergleiche. Dadurch schafft er Bilder, die das Kopfkino des Lesers auf Hochtouren laufen lässt. Die Bilder, die sich dabei auftun, können sehr verstörend und intensiv sein, denn Karan Mahajan beschönigt nichts. Ganz im Gegenteil. Seine bildhaften Vergleiche und Metaphern tragen dazu bei, dass man ein ohnehin schon bedrückendes Szenario als noch hässlicher empfinden kann. "Menschen drückten und drängten, während die Züge durch ihre Strecken aus Scheiße und Pisse rasten, Plastik und Gummi hinter sich eigentümlich verbrannten und damit die Luft würzten. Der Bahnhof war so aufgebläht mit Menschen, dass der Verlust einiger kaum tragisch oder gar wichtig wäre." Fazit: Wenn es nach der New York Times geht, gehört dieser Roman zu den 10 Besten in 2016. Ich glaube nicht, dass ich in meinem Urteil soweit gehen würde. Eines ist jedoch klar. Dieser Roman wird mich noch lange Zeit beschäftigen. Es ist kein Lesestoff, den man einfach beenden wird und zum nächsten Buch übergehen wird. Dafür liefert Karan Mahajan zu viele Denkanstöße, die es zu verarbeiten gilt. Ein Roman, den ich deshalb sehr gern weiterempfehle! © Renie