letterrausch
Die englische Originalausgabe von Kate Atkinsons Roman „Die Unvollendete“ wurde folgendermaßen beworben: "What if you had the chance to live your life again and again, until you finally got it right?" Ja, was wäre dann? Diese Frage hat sich sicherlich jeder schon einmal gestellt: Was wäre gewesen, wenn man auf die andere Schule gegangen wäre, den Job nicht angenommen hätte, nicht geheiratet hätte, sich gegen Kinder entschieden hätte. Oder auch kleiner: Was, wenn man statt Omelett das Steak bestellt hätte? Hätte das einen Unterschied gemacht? Was macht eigentlich einen Unterschied? Wie schwerwiegend muss eine Entscheidung sein, um das ganze Leben zu beeinflusen? Das sind spannende Fragen und beim Beginn der Lektüre ist man gespannt, was eine Romanautorin aus dieser Idee macht. Leider stellt sich relativ schnell Ernüchterung ein. Denn so wie unser aller Leben ist auch das Leben der ständig wiedergeborenen Ursula vor allem eines: meistens banal. Der zyklisch aufgebaute Roman startet wieder und wieder an Nullpunkt – mit dem Kapitel „Schnee“, in dem Ursula geboren wird. Mal wickelt sich die Nabelschnur um ihren Hals und sie stirbt, mal eben nicht. Mal hat der Arzt eine Schere dabei, mal steckt er im Schneetreiben fest. Wir befinden uns am Beginn des 20. Jahrhunderts und Ursula wächst behütet in der Nähe von London auf. Trotzdem wird so ein Kinderleben offenbar von allen Seiten bedroht: Von der hereinkommenden Flut, von einer vom Dach kullernden Strickliesel, von der Spanischen Grippe. Und prompt sind wir ein weiteres Mal beim Kapitel „Schnee“ und einer neuen Wiedergeburt. Das wird sehr schnell sehr ermüdend, denn der Leser befindet sich zusammen mit der Protagonistin in einer Zeitschleife aus der es kein Entkommen zu geben scheint. Viel zu lange verharrt Kate Atkinson in dieser Kinderperspektive. Man spielt im Garten, man bekommt kleine Kaninchen geschenkt, man hat einen Hund, die Köchin macht Pastete – mehr passiert leider nicht. Dazu kommt, dass Ursula auch keine Erinnerung an ihre vorigen Leben hat. Je öfter das Kapitel „Schnee“ sie ereilt, desto eher schleichen sich bei ihr Gefühle und Vorahnungen ein, doch das reicht nie dafür aus, dass sie bewusst andere Entscheidungen treffen könnte. Von der „Chance“ aus dem Klappentext bleibt im Roman selbst wenig übrig. Sehr schnell breitet sich die Erkenntnis aus, dass es sich bei diesen Wiedergeburten weniger um eine Chance und eher um einen Fluch handelt. Gut wird der Roman in dem Moment, als er den Blitzkrieg beschreibt. Ursula lebt in London, mittendrin also. Mal ist sie in einem Ministerium tätig, dann wieder sucht sie in ihrem Viertel nach Verschütteten, dann wieder ist sie selbst eine Verschüttete. Diese Kapitel sind sehr stark, Kate Atkinson schafft eine sehr dichte und bedrückende Atmosphäre, der man sich kaum entziehen kann. Man hat den Eindruck, der Roman würde endlich an Fahrt aufnehmen. Doch leider hält Atkinson das Niveau nicht und bald flachen Spannung und Handlung wieder ab bis der Roman sozusagen austrullert und irgendwie versandet. Hat Ursula am Schluss dann endlich „alles richtig gemacht“? Und was wäre das Ergebnis? Dass Ursula nun ein Leben leben und sterben darf? Oder bleibt alles eine end- und sinnlose Zeitschleife? „Die Unvollendete“ hat mich ratlos zurückgelassen. Will der Roman die Zufälligkeit von Lebensverläufen beschreiben? Dann wäre ich der Autorin dankbar gewesen, wenn sie die Hälfte der Seiten eingespart hätte. Will er ein historischer Roman über den Zweiten Weltkrieg sein? Dann bitte die ganze erste Hälfte komplett streichen. Will er ein Familienroman sein? Dann weg mit der Wiedergeburt. „Die Unvollendete“ mag in kein Schema passen, leider bedeutet das aber auch, dass sie sich keinem Motiv wirklich mit Haut und Haaren verschreiben möchte. Und so bleibt alles nur angeschnitten, nichts fügt sich wirklich zusammen. Letztendlich bleibt bei mir der schale Beigeschmack, dass „Die Unvollendete“ viel Tüll, Papier und Krepp für ein dann doch eher mittelmäßiges Geschenk ist. Große Teile des Romans sind entweder langweilig oder redundant oder beides und die starken Passagen (die es zugegebenermaßen gibt) reißen es nicht heraus. Ein klassischer Fall von: grandiose Idee, leider nur mittelmäßig ausgeführt. Dann lieber doch nochmal „Replay“ von Ken Grimwood lesen.