Renie
Charles Darwin (1809 - 1882) und Karl Marx (1818 - 1883) haben sich nie persönlich kennengelernt. Eigentlich merkwürdig. Denn sie wohnten während ihrer letzten Lebensjahre lediglich um die 32 km voneinander entfernt. Ok, das ist keine Entfernung für einen Spaziergang, aber mit einer Pferdekutsche durchaus machbar, um einem Kollegen seine Aufwartung zu machen. Haben sie aber nicht. Oder etwa doch? Der Titel des Romans "Und Marx stand still in Darwins Garten" ist daher eine charmante Idee zu einem Treffen, das in Wirklichkeit nie stattgefunden hat, aber hätte stattfinden können. Die Autorin Ilona Jerger lässt die beiden Persönlichkeiten zusammenkommen. Entstanden ist ein Roman, der amüsant, philosophisch und berührend ist. Ein Roman, ganz nach meinem Geschmack! Charles Darwin, der brillante Naturwissenschaftler, der in seinem Leben die Welt umsegelt hat, unbekannte Arten entdeckt und erforscht hat, mit seiner Arbeit die Entwicklung der Evolutionstheorie maßgeblich geprägt hat und natürlich etliche Bücher geschrieben hat (u. a. "Die Entstehung der Arten"), ist in seinem letzten Lebensabschnitt angekommen. Jetzt, im Alter von 72 Jahren, lässt seine Gesundheit nicht mehr zu, dass der ewig wissensdurstige Darwin in der Welt umherzieht. So lebt er mit seiner Frau Emma in einem Vorort von London und widmet sich hier seinen Forschungen. Sein bevorzugtes Forschungsobjekt ist derzeit der Regenwurm. Darwin leidet unter Schlaflosigkeit und den Dingen, die einem 72-jährigen Körper zu schaffen machen. Das hält ihn jedoch nicht davon ab, seine Forschungen mit der gleichen Leidenschaft zu betreiben wie in jüngeren Jahren. Mehrmals in der Woche erhält Darwin Besuch von seinem Arzt, Dr. Beckett, der sich um die Gesundheit des weltberühmten Naturwissenschaftlers kümmert. "Charles tastete nach den Streichhölzchen, zündete die Kerze auf dem Nachttisch an, schaute auf seine Taschenuhr und war wieder einmal untröstlich, dass er damals die goldene Uhr seines verehrten Herrn Papa für einen Billardtisch verhökert hatte. Sofort versuchte er derlei Gedanken über Verhaltensweisen, die in der Vergangenheit lagen und die man naturgemäß nicht mehr ändern konnte, an ihrer Ausbreitung zu hindern. Denn hatten sie einmal die Gelegenheit bekommen, ihre deprimierende Wirkung in allen Gliedern zu entfalten, war es schwer, zu einer schöneren Sichtweise des Lebens zurückzufinden." (S. 11) Dr. Beckett zählt eine weitere Berühmtheit zu seinen Patienten: Karl Marx, persona non grata in seinem Heimatland, ist er in Großbritannien im Exil gestrandet, wo er sich der Fortsetzung seines berühmten Werkes "Das Kapital" widmet. In Großbritannien macht man sich lustig über den Antikapitalisten. Seine Theorien sind schwer verständlich. In "Das Kapital", Band 1, hat er sich in seinen leidenschaftlichen Gedanken verzettelt. Kaum einer, der das Buch gelesen und verstanden hat. Auch Darwin und Dr. Beckett konnten bisher mit dem Marxschen Gedankenwirrwarr nicht viel anfangen. Aus einer Laune heraus, wird Marx zum Abendessen im Hause Darwin eingeladen, wo es zu einem sehr interessanten und emotionalen Streitgespräch kommt, an dem Darwins Ehefrau Emma einen großen, fast schon feindlichen, Anteil hat. Marx sieht Gemeinsamkeiten zwischen seiner kommunistischen Lehre und der Evolutionstheorie von Darwin. Ein gemeinsamer Nenner ist für ihn die Ablehnung der Religion und die Verleugnung Gottes. Die religiöse Emma ist eine erbitterte Gegnerin und bietet dem prominenten Wissenschaftler Paroli. Und am Ende des Abends steht Marx "still" und nachdenklich "in Darwins Garten". Charles Darwins Abkehr von der Religion ist ein wunder Punkt im Zusammenleben mit seiner Frau Emma. Sie ist ein hartnäckiger Gegner im Streit um den wahren Glauben: protestantisch, regelmäßige Kirchgängerin, die gern den Pfarrer der Gemeinde im Hause Darwin ein- und ausgehen lässt. Sie glaubt an ein Leben nach dem Tod. Der Gedanke, dieses Leben ohne ihren geliebten Charles verbringen zu müssen, weil er ein Leben nach dem Tod leugnet, sorgt für einige Diskussionen bei den Darwins. Unvergleichlich sind die scharfsinnigen Dialoge in diesem Roman. Dabei präsentiert sich Darwin als ein humorvoller älterer Herr, der immer wieder Spaß daran hat, seine Thesen mit Vehemenz zu vertreten. Als Leser verbringt man gern viel Zeit mit Darwin. Durch seine Schlaflosigkeit gibt er sich Gedanken und Erinnerungen hin, die einen Mann zeigen, der ein ungewöhnliches Leben geführt hat und der von einem großen Teil der Welt unverstanden ist. Viele sehen in ihm den Atheisten. Doch beim näheren Hinsehen stellt sich heraus, dass er noch lange nicht der Religion abgeschworen hat, wie ihm viele unterstellen und dafür hassen. In Wirklichkeit ist Charles Darwin ein Ungläubiger, bestenfalls ein Agnostiker. Bloß weil er nicht mehr an Gott glaubt, heißt es noch lange nicht, dass es diesen nicht gibt. "'... Gesetzt den Fall, es gibt einen Gott, welche Rolle spielt er dann bei der Evolution? Könnte es nicht sein, dass sich Gott statt in Wundern in Naturgesetzen äußert?'" (S. 223) Viele Szenen in diesem Buch haben mich schmunzeln lassen, wozu der saloppe Sprachstil der Autorin Ilona Jerger einen großen Anteil hat. Fast im Plauderton präsentiert sie dem Leser die letzten Schaffensjahre eines genialen Wissenschaftlers. Sie geht auf seinen Versuch ein, Beruf und Privat in Einklang zu bringen. Seine Experimente haben ihren Weg in das Heim der Familie Darwin gefunden, manchmal sehr zum Leidwesen von Emma, die sich am Ende jedoch aus Liebe zu ihrem Charles mit seinen Regenwürmern, Käfern, Saubohnen etc. arrangiert. "Selbst Emma, die ein Leben lang Versuche nicht nur in der Küche, sondern auch im Esszimmer hatte erdulden müssen, schloss die Tiere in Herz, was auch daran lag, dass der Regenwurm von Experiment zu Experiment mehr Persönlichkeit preisgegeben und schließlich sogar einen ausgeklügelten Intelligenztest bestanden hatte." (S. 34) Marx wird bei Ilona Jerger zum Hypochonder, der auf jedes Zipperlein achtet. Die Betreuung durch Dr. Beckett ist Marxs' Freund Friedrich Engels zu verdanken, der den mittellosen Antikapitalisten finanziell unterstützt. Das Buch endet, wie es enden muss. Alles deutet darauf hin, dass Darwin am Ende sterben wird. Und trotzdem sind die letzten Tage von Darwin sehr ergreifend, zumal Ilona Jerger diesem großartigem Mann mit viel Feingefühl und Respekt begegnet. Die Trauer und der Schmerz der Angehörigen sind am Ende spürbar. Darwin scheint menschlich und in der Wissenschaft eine Lücke zu hinterlassen, die nicht so ohne weiteres zu schließen ist. Auch Marx wird in diesem Buch am Ende sterben. Doch hier merkt man den Unterschied im Ansehen der beiden Persönlichkeiten. Während Darwin ein Staatsbegräbnis in der Westminster Cathedral zu London erhält und in allen Ehren beigesetzt wird - selbst seine Gegner erweisen ihm die letzte Referenz -, wird Marx wie ein Niemand auf irgendeinem Friedhof in London zu Grabe getragen. Lediglich seine engsten Angehörigen, wenige Anhänger und noch weniger Freunde, stehen an seinem Grab. Fazit: Ein Roman über zwei Männer, die nicht nur durch ihr Lebenswerk zu beeindrucken wussten. Egal, ob sie sich wirklich getroffen haben - man möchte es Ilona Jerger in ihrem charmanten Roman gern glauben. Ein echtes Lesehighlight! © Renie