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mabuerele

Posted on 18.7.2021

„...Lange genug warst du eine Raupe, Schwester. Nun sei ein Schmetterling. Nutze die Gelegenheit und verwandle dich in das, was wirklich in dir steckt...“ Diese Worte hört die 19jährige Aurora Mandelli tief in sich am Grab ihres Bruders . Was war geschehen? Ihr älterer Bruder war bei einem tragischen Unfall auf einer Baustelle ums Leben gekommen. Ihr Vater zieht sich zurück. Er schweigt und versinkt in eine tiefen Depression. Die Baufirma am Comer See droht den Bach runter zu gehen. Die wirtschaftliche Lage in Italien anno 1956 war so schon nicht rosig. Aurora beschließt, das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen. Zusammen mit den verbliebenen Maurer Michele will sie die Firma am Laufen halten. „...Ein verwegenes Grinsen stahl sich in Auroras Gesicht, sie straffte die Schultern und reckte das Kinn. Es gab noch viel zu tun. Die Welt war auf Frauen wie sie nicht vorbereitet...“ Wie recht sie damit hat, wird sie bald zu spüren bekommen. Von Anfang an lassen sie die Kunden merken, dass Michele für sie der Ansprechpartner ist. Sie gilt als bessere Arbeitshilfe. Einige im Ort zerreißen sich sogar den Mund darüber, wie es sein kann, dass eine Frau auf dem Bau arbeitet. Die Autorin hat einen spannenden Roman geschrieben. Die Geschichte ist gleichzeitig ein gelungenes Zeitdokument, denn sie belegt den Zwiespalt zwischen dem Können der jungen Frau und den althergebrachten Vorstellungen in dem kleinen Ort. Der Schriftstil lässt sich gut lesen. Die Personen werden ausreichend charakterisiert. Ich möchte mich auf Aurora beschränken. Die junge Frau kennt die Tätigkeiten in der Firma des Vaters. Dass sie dort aber arbeitet, war nie ein Thema. Um es mit den Worten der Mutter auszudrücken: Das gehörte sich nicht. Sie hat sich angepasst. Diese Eigenschaft, es allen Recht machen zu wollen, wird ihr noch schlaflose Nächte bescheren. Ihr Optimismus wird ein heftigen Dämpfer bekommen. Doch es gibt Ausnahmen. Manche Kunden erkennen ihre besonderen Fähigkeiten. Aurora geht neue Wege. Für sie ist jeder Auftrag ein eigenes Kunstwerk, das zur Umgebung und zum Auftraggeber passen muss. Sie vertraut Michele und glaubt, ihn zu lieben. Er hat zur Rettung der Firma beigetragen. Das rechnet sie ihm hoch an. Außerdem ist sie der Meinung, dass er der Erfahrenere ist. Also ordnet sie sich ihm unter. Was aber plant der junge Mann wirklich? Sehr gekonnt arbeitet die Autorin die Emotionen der Protagonisten heraus. Das ist am Anfang die Trauer um den Sohn und Bruder. „...Wie so oft in den letzten Tagen zeigte Papa jedoch keinerlei Regungen. […] Worte erreichten ihn nur selten. Blicke erwiderte er nicht. Berührungen ertrug er nicht...“ Während der Vater trotz aller Trauer zumindest mit kleinen Gesten zeigt, wie sehr er seiner Tochter vertraut, interessiert die Mutter nur, was das Dorf zu Auroras Verhalten sagt. Sie kennt keine Dankbarkeit, denn Auroras Arbeit ist es, die für das tägliche Brot sorgt. Wichtig ist allein der Ruf. Es ist auch das Verhalten der Mutter, dass Aurora die Freude an der Arbeit nimmt und ihr Selbstvertrauen untergräbt. Ein besondere Stilmittel möchte ich noch ansprechen. Es sind die Briefe von Auroras Cousin Antonio. Er hat Italien verlassen und verdingt sich als Bauarbeiter in der Schweiz. In seinen Briefen schildert er realistisch, wie sie behandelt werden und wo die Probleme liegen. Gleichzeitig macht er Aurora für ihr Tun Mut. Marisa Marino, eine Künstlerin wird zu Auroras Freundin. Sie warnt sie: „...Lass dich nicht in einen Käfig sperren...“ Sie ist weitsichtig genug, um die Entwicklung zu ahnen. Aurora muss durch manche Tiefen gehen, bevor sie sich frei macht von der Meinung der Leute und den eigenen Weg findet. Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen.

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