stevebylaw
Wenn hier eine andere Rezension darauf hinweist, das Buch nach der Lektüre verbrennen zu wollen, kann man Koeppen nur nochmals für seine Hellsichtigkeit beglückwünschen, Denkmuster der Nazi-Zeit im Nachkriegsdeutschland aufzuzeigen, die, wie der Wunsch nach Bücherverbrennung zeigt, offensichtlich auch heute noch nicht abgeebbt sind. Dass der Roman als Schullektüre ungeeignet ist, will ich gerne glauben, da der Roman reichlich anspruchsvoll ist und ohne Kontextwissen nicht ganz so gut funktioniert. Der Roman stellt die Ereignisse eines einzigen Tages aus der Sicht zahlreicher Personen dar, zahlreiche deutsche Personen, aber auch einige Amerikaner:innen, insbesondere zwei schwarze Amerikaner, die als Soldaten in Deutschland waren, wodurch Koeppen ziemlich eindringlich den Rassismus der deutschen Bevölkerung sichtbar macht, die nach "den Juden" jetzt "die Schwarzen" zum neuen Feindbild erklären kann. Allein in diesen Beobachtungen ist der Roman auch im Jahr 2021 hochaktuell, auch wenn Koeppen zahlreiche Male das N-Wort verwendet. Zum Teil überschneiden sich diese Ereignisse zwischen den Personen, manche laufen aber auch schlicht nebeneinander ab, wie die meisten unserer Leben, was Koeppen stilistisch geschickt löst. Während ein Paragraf meist die Perspektive nur einer Person schildert, versucht der nächste Paragraf immer thematisch an den vorherigen anzuschließen, auch wenn die Personen teilweise nichts miteinander zu tun haben. Zudem mochte ich, dass der Roman größtenteils mit inneren Monologen oder einer höhergeordneten Erzählerstimmer arbeitet. Dialoge finden fast kaum statt, was die Kälte und fehlende Nähe zwischen den Menschen ziemlich gut veranschaulicht. Was den Roman so großartig macht: seine vielschichtigen Erzählerstimmen und prägnante Charaktere aus verschiedensten Hintergründen; die gehetzte, eindringliche, anschauliche und poetische Sprache ("und weiter war es nur ein Lautrauschen für Josef und weiter nur eine Brandung der Geschichte, eine Brandung aus dem Äther zu ihm gespült, unverständliche erlebte gärende Geschichte, ein Sauerteig, der aufging.") Zudem verhandelt das Buch zahlreiche Alltagsbeobachtungen ("Es war eine Nation von Autofahrern, die sich breit machte."), politische Ereignisse, philosophische Themen (insbesondere die Kraft des Zufalls) der damals jungen Bundesrepublik. Wer ein - zugegebenermaßen sehr düsteres, pessimistisches und schonungsloses - Panorama des Nachkriegsdeutschland lesen möchte, dem oder der sei das Buch ans Herz gelegt, weil es sicherlich eines der stärksten seiner Art ist. Wer allerdings eine handlungsreiche Geschichte bevorzugt, in der Menschen von Punkt A nach Punkt B gehen und sich dabei irgendwie weiterentwickeln und eine "Lektion lernen", der könnte hier eher enttäuscht werden.