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«Erzähl uns die allerschrecklichste, die allerallerfurchtbarste der griechischen Sagen!», bitten zwei Kinder ihren Großvater. Er meint, es sei die von Ödipus und beginnt zu erzählen. In der griechischen Mythologie spielen die unsterblichen Götter auf dem Olymp gern mit den Menschen ein böses Spiel. Befragt man ein Orakel nach der Zukunft, so wird die Weissagung mit Sicherheit eintreffen. Dem Menschen wiederum gefallen die Prophezeiungen oft nicht, und er meint, weil er sie nun kennt, könne er sie umschiffen. So denkt auch König Laios von Theben, dem vorausgesagt wird, dass sein Sohn, der bald das Licht der Welt erblicke, ihn ermorden und seine Mutter heiraten werde. Von wegen, denkt er sich, setzt das Kind nach der Geburt aus, damit es wilde Tiere fressen mögen. Und wie das Schicksal es will, rettet ein Hirte den Jungen, übergibt ihn dem kinderlosen Königspaar von Korinth, die ihn adoptieren, ihn Ödipus nennen. Der nun junge Mann, der nichts von seiner Herkunft weiß, begibt sich auf Reisen, und er wird das Rätsel der Sphinx lösen. Das Orakel wird sich selbstverständlich bewahrheiten. Dem aber nicht genug, alles wird noch viel schlimmer kommen ... Eine tragische Geschichte, stellen die Enkel am Ende fest. Und wie erging es der Tochter des Ödipus, der Antigone? Ist die Sage lustiger?, fragen sie. «Nein, ich glaube sogar, die ist noch schlimmer.» So endet das Kinderbuch. Der Mythos vom Ödipus für Kinder erzählt, leicht verständlich mit feinen Illustrationen hinterlegt. Die griechische Mythologie fasziniert bis heute und es gibt wundervolle Kinder- und Jugendbücher zum Thema. Dieses ist ein davon. Yvan Pommaux’ grafische Umsetzung ist im Stil einer Graphic Novel eines Comics, gezeichnet, passt sich in die antike Geschichte ein. Feine Stiftzeichnung mit digitaler Kolorierung in gedeckten Farben präsentiert griechische Landschaften, Säulenpaläste, antike Gewänder, mit Liebe zum Detail. Die Figuren sind ausdrucksstark. Mit der ersten Seite ist man in der griechischen Mythologie angekommen. Die antike Lebensform der Menschen, die ihr Schicksal nach den Göttern richteten – man kann dem Willen der Götter nicht entkommen – wird hier gut projiziert. Die Launenhaftigkeit der Götter, die letztendlich ziemliche fiese Gestalten waren, wird hier drastisch gezeigt. Aber auch Ödipus trägt eine Teilschuld durch seinen Hochmut und seine Wut, der er freien Lauf lässt, Männer ohne Grund tötet. Er wird seinen Preis dafür zahlen müssen. Eine fein für Kinder aufgearbeitete Sage, die vom Moritz Verlag mit einer Altersempfehlung ab 8 Jahren angegeben wird. Dem schließe ich mich an. Yvan Pommaux, geboren 1946 in Vichy (Frankreich), zeichnet seit seiner Kindheit. Mit 18 Jahren fiel er durchs Abitur und ging daraufhin zum Kunststudium nach Clermont-Ferrand und Bourges, wo man talentierte Künstler glücklicherweise auch ohne Hochschulreife aufnahm. Anschließend zog er nach Paris. Dort hielt er sich zunächst mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Schließlich kam er zum französischen Verlag l’école des loisirs, wo er zunächst Schulbücher illustrierte und schließlich, beeinflusst durch Tomi Ungerer und Maurice Sendak, dazu überging, eigene Geschichten zu entwickeln.