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gwyn

Posted on 6.7.2021

Zwölf britische Frauen verschiedener Generationen stehen im Mittelpunkt dieses Romans. Die meisten sind schwarz, einige lieben Frauen; sie sind in England geboren oder kamen als Einwanderinnen. Zwölf Frauenschicksale zu einer großen Geschichte verwoben, ohne dass dies als Aneinanderreihung erscheint – das ist großes Kino. Schwarze Perspektive, Erlebtes erzählen, verweben; in fünf Kapiteln stellt die Autorinnen ganz verschiedene Lebensgeschichten vor, die auf die ein oder andere Weise miteinander verbunden sind: Jugendliche, Freundinnen, Mütter, Töchter; soziale Unterschiede, Benachteiligungen, Schicksale, Aufstiege. «Nach nur zwei Generationen zu verschwinden, ist es das, wofür wir nach England gekommen sind?» Carole hat sich durchgeboxt, sie ist eine erfolgreiche Investmentbankerin, die einen Weißen geheiratet hat, ein Privilegierter aus der Oberschicht, der sich nicht nach beruflichem Aufstieg sehnt. Carols Weg nach oben war hart und steinig. Als 13-jährige wird sie auf einem Schulfest alkoholisiert von weißen Jungen vergewaltigt. Dieser sexuelle Missbrauch zeigt ihr die harte Realität, gibt ihr ein Ziel für ihr Berufsleben. Caroles Mutter Bummi ist in Nigeria in armen Verhältnissen aufgewachsen, hat so einiges mitgemacht. Sie und ihr Mann haben einen ausgezeichneten Hochschulabschluss vorzuweisen, glauben, damit in Großbritannien gutes Geld verdienen zu können. Aber als schwarze Einwanderer erhalten sie nur Jobs als Taxifahrer und Reinigungskraft. Ihre Tochter nennen sie Carole – ihr Name soll nicht auf die Herkunft schließen lassen, auf sie setzen die Eltern die Zukunft. Aber eins ist klar: Carole wird später einmal als Jungfrau in die Ehe gehen und einen Nigerianer heiraten ... Als Bummis Mann an einem Herzinfarkt verstirbt, entschließt sie sich, eine Reinigungsfirma zu gründen. Wenn es schon Putzen sein muss, dann als Chef – sie hat schließlich Mathematik studiert, die wirtschaftlichen Berechnungen sind für sie doch lässig zu schaffen. «Feminismus ist doch voll die Herdennummer, ganz ehrlich, heute ist es sogar schon durch, noch eine Frau zu sein, ich denke, in Zukunft sind wir irgendwann alle nicht-binär, weder männlich noch weiblich, was ja alles sowieso nur Genderperformance ist, und das heißt dann auch, Mumsy, dass deine Frauenpolitik überflüssig wird.» Amma ist eine gewagte Theatermacherin, lesbisch, freizügig, ihr derzeitiges Stück heißt «Die letzte Amazone von Dahomey». Sie muss sich von ihrer Tochter Yazz vorhalten lassen, mit ihrem Feminismus im Gestern zu leben. – Nicht alle Frauen sind gut, denn Frauen sind facettenreiche Menschen. Da ist die radikalfeministische, Lesbe Nzinga, die ihre Partnerin überredet, mit ihr in eine feministische Enklave zu ziehen, bloß fort von unterdrückenden, gewalttätigen Männern. Nzinga arbeite auf dem Bau der Siedlung, ihre Partnerin muss zu Hause zu bleiben, und sie rasiert ihr ganz feministisch den Kopf kahl. Stück für Stück entmündigt sie sie, schreibt ihr vor, welche Bücher sie zu lesen hat, sperrt sie zu Hause ein, schlägt sie, isoliert sie von den anderen Frauen in der Gemeinde. Unterhaltsam, mit tiefem Humor, erzählt Bernardine Evaristo verschiedene Lebensgeschichten. Frauen, die ihren Platz auf der Welt suchen, jeder auf seine Art und Weise. Komplex verweben sich die Geschichten mit einer Scharfsinnigkeit, die man erst Stück für Stück begreift; Rassismus, patriarchale Unterdrückung, Migration, Feminismus, sexuelle Orientierung und Identität, Generationskonflikte sind die Themen, ohne das sie zum Thema gemacht werden. Bernardine Evaristo hält der Gesellschaft einen Spiegel vor, ohne mit dem Zeigefinger zu wackeln. Süffig geschrieben, ein Buch, das einen Sog entwickelt – und leider ein Ende hat. Ich habe den Roman als Hörbuch gehört und bin völlig begeistert. Anzumerken sei, Bernardine Evaristo benutzt in ihrem Roman ein ungewöhnliches Stilmittel: Sie verzichtet fast vollkommen auf Interpunktion und arbeitet mit Zeilenumbrüchen. Etwas, dass im Hörbuch natürlich nicht spürbar ist. Ein Buch, das ich sicher noch einmal in Papierform genießen werde. Absolute Empfehlung! Bernardine Evaristo wurde 1959 als viertes von acht Kindern in London geboren. Sie ist Professorin für Kreatives Schreiben an der Brunel University. Bernadine Evaristo gewann mit ihrem Roman «Mädchen, Frau etc.» 2019 als erste schwarze Autorin den Booker Prize.

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