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mabuerele

Posted on 28.6.2021

„...Bestimmt war die Stelle längst vergeben, man hatte nur vergessen, es ihr zu sagen! Gretchen gehörte zu den Menschen, die von anderen gern vergessen wurden...“ Auf Anraten ihrer Freundin Henni war Gretchen aus der Provinz nach Berlin gekommen. Sie sollte sich um eine Stellung im angesagtesten Modeatelier bewerben. Eigentlich weiß sie, was sie will, doch es mangelt ihr an Selbstbewusstsein. Dieses Mal aber hat sie Glück. Sie soll die Memoiren der Nachtclubsängerin Iris tippen. Die Autorin hat einen aussagekräftigen historischen Roman im Berlin des Jahres 1926 geschrieben. Sie bildet in ihrer Geschichte die Zeitverhältnisse gekonnt ab. Gretchen ist für ihre Zeit gut gebildet. Sie kann Latein und Griechisch. Sie träumt von einem Studium, aber dafür fehlt ihr das Geld. Nun hofft sie, es sich durch die Arbeit zusammen sparen zu können. Henni dagegen nimmt das Leben, wie es ist. Sie schmeißt auch mal die Arbeit, wenn es ihr nicht passt. Sie hofft, dass schon jemand ihr Leben finanzieren wird. Ich mag den subtilen Humor der Geschichte. So äußert Baronin von Withmannsthal, als sie den Schönheitssalon betritt und gefragt wird, ob sie eine angenehme Reise hatte: „...Nein, es war ganz grauenhaft. Ich bin vollkommen erschöpft. […] Dieses ganze Kairo wimmelt nur so von Ägyptern!...“ Deutlich wird die Lebenslust der Zeit. Noch macht man über Hitler Späße. Doch erste Schatten zeigen sich schon am Horizont. Fred George, Hennis Freund und Musiker, vermittelt Gretchen eine Unterkunft bei Fräulein Notter. Erst nach und nach wird mir klar, wie gekonnt Frieda Notter mit ihren Möglichkeiten spielt. Anfangs hielt ich sie für etwas verschroben. „...Ich gehe nur mit verheirateten Männern aus. Schon seit Jahren. Das ist eben meine Natur. […] Ich sage immer, nichts macht einen Mann so attraktiv wie ein Goldring am Finger. Ein möglichst breiter...“ Frieda Notter will Spaß, aber keinesfalls geheiratet werden. Henni führt Gretchen in das glamouröse Leben Berlins So lerne ich nicht nur das Varieté der damaligen Zeit, sondern auch manch Vergnügungslokal kennen. Je mehr aber Gretchens Selbstbewusstsein wächst und sie sich traut, ihre Meinung zu sagen, desto brüchiger wird die Freundschaft. Bei allem Tun bleibt Gretchen Realistin, während Henni wie auf Wolken schwebt. Wie schreibt die Autorin so schön? „...Henni hat Flausen...“ Mit Iris kommt Henni gut zurecht. Sie bittet sie sogar, ihr Latein beizubringen. Das ist aber nur eine kurze Episode. Iris hat an einer Seite ihres Gesichts ein Narbe. Gerade die macht sie im Club zum Star. Woher aber stammt die? Jeder, den Gretchen fragt, erzählt eine andere Geschichte. Ein informatives Nachwort und ein Glossar ergänzen die Geschichte. Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Es ist ein gelungenes Zeitgemälde.

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