sabinescholl
Den Ausdruck Hillbilly mochte ich bislang wegen seines Klangs und verstand das Wort im Sinne von Landei, Hinterwäldler oder Ähnlichem. Dann wurde Trump gewählt; die massiven Unterschiede zwischen Metropolen und Unterprivilegierten des Heartlands rückten in den Fokus. Mit J. D. Vances „Hillbilly Elegy“ erfuhr ich, dass es sich dabei ursprünglich um in den Appalachen seit Generationen angesiedelte Nachkommen irischer Einwanderer handelt. Vance erzählt von seiner Herkunftsfamilie, die wie alle anderen in seinem Umfeld, von Konflikt, Gewalt, Alkohol, wechselnden Wohnorten und Lebenspartnern der Mutter geprägt ist. Dennoch gelingt es dem Jungen, als einzigem seinen Schulabschluss zu machen, Jura zu studieren und aufzusteigen. Der Wert seines Memoirs liegt darin, dass er nicht von oben herab von einer vernachlässigten Bevölkerungsschicht berichtet, mit der jeder, der es geschafft hat, nichts mehr zu tun haben will, auch weil deren Lebenseinstellung so überhaupt nicht dem Mythos des amerikanischen Traums entspricht. Immer wieder streut Vance dazu Ergebnisse soziologischer Studien ein, deren Daten aber eher weit zurückliegen. Auch die Opiod-Krise ist darin noch nicht so ausführlich dargestellt, wie sie später zuschlagen wird. Einige der Statistiken überraschen dennoch, wie die Tatsache, dass der Prozentsatz von Müttern, die ihre Partner häufig wechseln, in den unteren Schichten weitaus höher ist, auch im Vergleich zu europäischen Ländern. Armut, soziale Instabilität, Drogen tragen dazu bei. Dass Vance ungeschönt den ziemlich brutal anmutenden Umgangston wiedergibt, der in seiner Familie normal war, verleiht seinem Bericht den authentischen Touch. Die Gründe für das Elend sieht er darin, dass die Hillbillys völlig abgekapselt von der regierenden Elite existieren. Sie erwarten nichts mehr für sich, bleiben daher passiv. Depression und Aggression gegen sich selbst und ihre Angehörigen sind die Folge, anstatt das System zu kritisieren oder Klassengrenzen durch gesteigerte Willenskraft überwinden zu wollen. Vance gelingt das mithilfe der einzigen stabilen Menschen seines Umfelds, den Großeltern, sowie mithilfe von Institutionen wie den Marines, die den Mann aus ihm machen, der er sein will. Seine höhere Bildung kann er trotz Förderung nur mit drei Jobs und vier Stunden Schlaf bewältigen. Als er dann sogar noch in Yale mit einem Stipendium studieren darf, ist er dort ein Außenseiter zwischen Reichen und Privilegierten. Er beschreibt den fehlenden Habitus, seine Missgeschicke bei Einladungen in teure Restaurants, das Impostor-Syndrom sowie das Gefühl, ein Verräter gegenüber der eigenen Klasse zu sein und betont, wie wichtig es sei, Mentoren zu finden, um Informationslücken bezüglich der Etikette zu füllen. So hatte er z. B. bis zur Einladung ins Restaurant keine Ahnung, was Sprudelwasser ist und spuckte es bei Tisch aus, weil es ihm untrinkbar vorkam. Als er seine spätere Frau kennenlernt, werden die emotionalen Schäden, die eine instabile Kindheit anrichten kann, deutlich. Gelernt hat er während seines Aufwachsens bloß zwei Reaktionen auf zwischenmenschliche Herausforderungen: zuschlagen oder weglaufen. Der weit verbreitete Zwang zu toxischer Männlichkeit hinterließ Spuren, die er sich mühsam abtrainiert. Begleitet ist diese Elegie (für die vielen Toten entlang seines Wegs) von einer christlich patriotischen Gesinnung: Immer noch sind die USA das tollste Land; der American Dream existiert wirklich; auch die Hillbillies lieben Amerika aus ganzem Herzen etc. Solche Töne bleiben für europäische Ohren weiterhin unverständlich. Kein besseres Sozial- oder Bildungssystem wird gefordert, sondern bestätigt, dass es für den, der sich anstrengt, immer einen Weg gibt. Zum Glück fehlen dann nach erfolgreichem Studium noch eine funktionierende Kleinfamilie mit Kindern, ein Haus und ein Hund. Der Hillbilly braucht also vor allem Liebe, Stabilität, einen Job, und schon geht es ihm gut, lautet Vances Fazit. Er steht als Ausnahme für diese „Lösung“. Seit kurzem gibt es auf Netflix auch eine Verfilmung dieses Stoffes.