sabinescholl
Sprache schafft Wirklichkeit, beschneidet diese mit festgelegten Begriffen aber auch. Denn Sprache spiegelt Herrschaftsverhältnisse wider. Die Existenz von Menschen afrikanischer Herkunft im gängigen Europa-Bild wird gemeinhin wenig bedacht. Dennoch sind sie anwesend, oft als Folge nicht gerade rühmlicher geopolitischer Entscheidungen Europas. Die Neuschöpfung AFROPEAN bzw. AFROPÄISCH, so der Titel des gerade mit dem Leipziger Preis für Europäische Verständigung ausgezeichneten Buchs von Johny Pitts, war daher vonnöten. Der Brite findet nicht nur einen Begriff, sondern geht in verschiedenen europäischen Ländern auf die Suche nach den damit bezeichneten Menschen am Rand der offiziellen Wahrnehmung. Pitts fotografiert, recherchiert, erklärt historische und politische Zusammenhänge. Meist sind seine Stationen Metropolen, wie Paris, Brüssel, Berlin, Moskau oder Lissabon, wo er sich Lebenswelten annähert, die vielen Einheimischen nur aus Gerüchten, genährt von Vorurteilen, bekannt sind. Pitts ist Sohn eines afroamerikanischen Musikers und einer britischen Arbeiterin. Er kennt also prekäre Verhältnisse, schiefe Blicke und haltlose Einschätzungen, welche Menschen dunklerer Hautfarbe oft widerfahren. Mit der Aufzählung negativer Zuschreibungen hält Pitts sich jedoch nicht auf, sondern füllt durch unaufgeregtes Berichten blinde Flecken der mentalen Europakarte auf. Ein wenig erinnern seine Reiseerzählungen an die Streifzüge Teju Coles in Open City. Doch Pitts lässt im Gegensatz zu Cole, der lieber eigene Eindrücke und Reflexionen wiedergibt, vor allem die Menschen sprechen, denen er begegnet, lässt sich ihre Lebensumstände zeigen, taucht darin ein, verbringt Zeit mit ihnen, erlaubt sich auch Unschärfen und Widersprüche, bevor er weiterreist. Exkurse führen ihn auf die Spuren afroamerikanischer Autoren, wie James Baldwin und Claude McKay, die es vorzogen, statt in der segregierten USA in französischen Künstlerkreisen zu leben. Am besten scheint dem Autor Marseille zu gefallen, das er als Treffpunkt von kulturellen Einflüssen und Dynamiken verschiedenster Herkunft interpretiert. Nahezu amüsant klingt Pitts‘ Erlebnisbericht einer Berliner Antifa-Demo gegen Rassismus, da seine Eindrücke so stark von deren Selbstverständnis abweichen. Spannend gerät sein Besuch im kapverdischen Slum Lissabons, bei dem es vor allem wichtig zu sein scheint, dass die Bewohner ihn nicht als Angolaner wahrnehmen und man rätselt warum. Schließlich erklärt Pitts, dass diese, noch heute wirksamen Spannungen aus der Kolonialpolitik Portugals herrühren, in welcher Kapverdianer als Schwarze erster Klasse angesehen wurden. So erweisen sich gegenwärtige Komplikationen als Folge von Verstrickungen der sogenannten Mutterländer zur Zeit des Kolonialismus. Portugal hält darin den Rekord vor allen anderen europäischen Ländern, seine koloniale Periode umfasste fünf Jahrhunderte und es gab die Übersee-Territorien erst nach der Revolution von 1974 auf. Langsam beginnt das Land nun, die Last der Vergangenheit aufzuarbeiten. Aufmerksame Leser werden nach der Lektüre dieses Buchs anders auf Menschen mit dunklerer Hautfarbe schauen und hoffentlich bedenken, dass sie schon lange Teil Europas sind. Auffällig ist trotzdem, dass Pitts meist auf männliche Protagonisten trifft. Begegnungen mit schwarzen Europäerinnen und deren Lebenswelten gibt der Autor sehr viel weniger Raum, was übrigens häufig in sich geschlechtsneutral gebenden Reiseberichten vorkommt. Pitts liefert auch keine wissenschaftliche Analyse, kein erschöpfendes Tableau, doch einen lesbaren Reiseführer in vermeintlich Vertrautes. Die Afropäerin bleibt jedoch weiterhin zu entdecken oder ist möglicherweise ohnehin bereits dabei, sich selbst sichtbar zu machen.