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Buchdoktor

Posted on 24.6.2021

Das Hotel Greenglass House ist normalerweise in den Weihnachtsferien geschlossen. Als am alten mechanischen Aufzug die Glocke läutet, damit ein Mitglied der Familie Pine einen Gast den Berghang herauf kurbeln kann, ist Milo Pine wenig begeistert. Nacheinander treffen De Cary Vinge mit den irre gestreiften Socken, Georgiana Moselle mit blau gefärbten Haaren, die betagte Mrs Hereward samt Strickbeutel und Dr. Gowervine ein. Die Köchin Odette wird aus den Ferien gerufen - das war es wohl für die Pines mit geruhsamen Ferien. Ein einziger Gast nimmt den alten Weg zum Haus; die über 300 Treppenstufen auf der Rückseite des Bergs: Clemence O. Candler. Die sonderbaren Gäste bringen nicht nur Berge von Gepäck mit, sondern suchen sich jeweils ein Zimmer aus, das möglichst weit weg von den anderen Besuchern liegt. Man könnte annehmen, jeder hätte etwas zu verbergen. Der Fund einer geheimnisvollen Landkarte, die kurz darauf von einer unbekannten Person gegen ein ähnliches Exemplar ausgetauscht wird, ist der Beginn eines Abenteuers, bei dem ein Pen & Paper Rollenspiel Milo überraschende Einsichten vermittelt. Milo wurde als Findelkind chinesischer Eltern von den Pines adoptiert. Dass der Junge seinen Eltern nicht ähnlich sieht, meinen Fremde stets ansprechen zu müssen. In Milo konnte ich mich sehr gut einfühlen, der die Motive seiner leiblichen Eltern für ihr Handeln wohl nie erfahren wird und sicher satt hat, ständig auf seine Sonderrolle angesprochen zu werden. Odettes Tochter Meddy treibt Milo an. Wenn sie sowieso über Weihnachten hier oben einschneien werden, könnten sie doch wenigstens etwas über die Karte herausfinden. Sie beide werden einfach „Seltsame Spuren“ als Kampagne eines Abenteuer-Rollenpiels durchspielen und dabei in andere Rollen schlüpfen. Auch wenn Milo den Sinn des Rollenspiels anfangs nicht einsieht, bietet es ihm zusammen mit der Geschichte des Greenglass House die Gelegenheit, sich endlich zugehörig zu fühlen. Die Geschichte des Hauses und des Schmugglerkapitäns Doc Holystone wird nicht allein als Text erzählt, sondern Kate Milford lässt Landkarten, Wasserzeichen, Buntglasfenster, ein geschmiedetes Tor, ein Notizbuch, eine Lochkamera und natürlich viele magische Artefakte erzählen. Für mich war diese Vielfalt der Erzählmittel ein Plädoyer dafür, Menschen ernstzunehmen, die ihre Abenteuer nicht zwischen Buchseiten erleben, sondern in Bildern, Spielen und weiteren Welten. Gegenwart, Vergangenheit, Sage und Realität überlappen sich hier; Greenglass House ist ein All-Age-Buch im besten Sinne, weil es Lesern unterschiedlichen Alters individuelle Erzählebenen anbietet. Herkunft, Identität, Adoption sind Facetten der Geschichte, jedoch nicht ihr Hauptthema. Ein ermutigendes, stärkendes Buch, in dem ein Kind aus seiner Außenseiterrolle heraustritt und erfährt, wie sich Eingebundensein anfühlt.

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