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anne_hahn

Posted on 20.6.2021

"Nach der Geburt von Zisk beschloss seine Großmutter, ihre restlichen Lebensjahre der Erziehung des Enkels zu widmen, und so geschah es. Sie verbrachte ihre ganze Freizeit mit ihm und versuchte, ihm den Vater zu ersetzen. Sie verwöhnte ihn, schimpfte mit ihm und erzog ihn. Bestrafte und verzieh. Sie träumte davon, dass er eines Tages als berühmter Cellist die ganze Welt bereisen und sie natürlich zu seinem wichtigsten Konzert einladen würde." Das wird sie nie erleben. Der Debüt-Roman Der ehemalige Sohn des weißrussischen Autors Sasha Filipenko setzt an dem Tag ein, als im Mai 1999 eine Massenpanik in einer Unterführung der Minsker U-Bahn-Station Njamiga zum Tod von einigen Dutzend junger Menschen führt. Franzisk (genannt Zisk) gerät in die Menge, die vor einem Hagelschauer Schutz sucht und in die Unterführung drückt - der U-Bahnsteig ist jedoch versperrt, da die Sicherheitskräfte fürchten, den Überblick zu verlieren. Auf dem Platz fand ein Rockkonzert statt und es hätte zu Demos gegen den Diktator kommen können. Zisk wird beinahe zerdrückt und verliert das Bewusstsein. "Einer nach dem anderen, eine nach der anderen verloren die jungen Männer und Frauen das Bewusstsein, wurden von Geschöpfen, die um das eigene Leben kämpfen, zu skurrilen Mordwerkzeugen." Der ehemalige Sohn erschien 2014 auf Russisch und ist der erste Roman des 1984 in Minsk geborenen und zur Zeit in der Schweiz (und St. Petersburg) lebenden Autors. "Dieses Buch ist ein Versuch zu analysieren, warum mein Land eines Tages in einen lethargischen Schlaf sank, aus dem es scheinbar gar nicht wieder aufwachen wollte," schreibt Sasha Filipenko im Vorwort der deutschsprachigen Ausgabe, welche jüngst bei Diogenes erschien. Inzwischen folgten vier weitere Romane - als erster deutschsprachiger erschien bereits 2020 Rote Kreuze im gleichen Verlag. Rote Kreuze hatte mich zunächst gefesselt, die skurrile Geschichte um eine vergessliche alte Dame und das allmähliche Herausschälen ihrer brutalen Vergangenheit (ihr Mann kehrt aus deutscher Kriegsgefangenschaft nicht zurück, sie verbüßt schuldlos Jahrzehnte im Gulag und verliert dabei ihre Tochter) war mir schlussendlich zu dick aufgetragen. "In der Stadt hat sich zum Glück fast nichts verändert. Nur so eine kosmetische Fassadensanierung der Republik. Aber mir scheint, dass das sogar gut ist, so fällt dir alles schnell wieder ein und Du wirst Dich in ein paar Tagen schon wieder perfekt auskennen. Viele Straßen sind umbenannt worden, aber da sind wir alle verwirrt. Das machen sie jetzt genau so oft, wie sie Leute einsperren." Damit hat mich Sasha Filipenko gekriegt. Die Perspektive der Großmutter. Sie gibt den Enkel nicht auf und bezieht quasi sein Krankenhauszimmer. Sie dekoriert es im Laufe der zehn Jahre, die Zisk im Koma liegen bleiben wird, liest dem Enkel vor, unterrichtet ihn, hört Musik, schaut fern und berichtet, was draußen los ist in der weißrussischen Welt. Für den Fall ihres Ablebens schreibt sie einen langen Brief. Als Zisk aufwacht, ist die Großmutter gestorben und die entfremdete Mutter mit seinem behandelnden Arzt verheiratet. Ihm bleiben ein alter Schulfreund, Kisten voller Kindheitserinnerungen, die Aufzeichnungen der Großmutter und ein kaum verändertes Land. Mir erklärte der Roman ein Land und einen Konflikt auf poetische Weise. Elvira Alexandrowna, die selbstbewusste alte Dame, ist Hüterin und Mahnerin (und beschwört angesichts der von tausenden Menschen begleiteten Beerdigung des weißrussischen Wassil Bykau eine Demonstration herauf) - eine erstaunlich reife und prophetische Figur ihres 29-jährigen Schöpfers. Der in vielfacher Hinsicht "ehemalige" Sohn ist ein mutiger, politischer Roman. In Weißrussland wird er unter der Hand weitergeben und sogar im Gefängnis gelesen, in Westeuropa wird sein Autor immer wieder zur Lage in seiner Heimat befragt. In Russland ist der Autor nicht heimisch geworden, obwohl ihm seine Großmutter nahelegte, in St. Petersburg zu leben, wie jeder gebildete Mensch. Übrigens wollte sie aus ihrem Enkel einen Cellisten machen. Filipenko wurde Schriftsteller und Feuilletonist, sein Brief an den Präsidenten des Eishockey-Weltverbands, René Fasel, sorgte mit dafür, dass die Eishockey-Weltmeisterschaft in diesem Jahr nur in Lettland stattfindet, eine weitere Rille im Kerbholz des jungen Autors. Er wird hoffentlich behutsam seine Wege wählen und weiter schreiben. Der Westen hat für die grauenhaften Ereignisse in Filipenkos Land noch keine Sprache gefunden, wie dieser aktuelle Text eindrucksvoll beschreibt. Und wie sieht Westeuropa aus der Sicht seiner Figuren aus? "Für die Europäer sind wir Menschen zweiter Klasse aus einem Dritte-Welt-Land. Alle sagen immer nur, man müsse uns helfen, die Tür aufmachen, wir seien so wie sie, würden uns durch nichts von ihnen unterscheiden, aber sobald es um das Thema Visum geht - ziehen sie zwischen uns eine riesige Panzerglasscheibe hoch. Unsere Mädels bumsen dei Botschafter ohne Panzerglas, aber mit uns reden sie wie mit einem Stück Scheiße."

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