Buchhandlung Almut Schmidt Kiel
„Was wir scheinen“ ist eine Romanbiografie, die die wahre Geschichte fiktionalisiert und somit die Hauptfigur, Hannah Arendt, sehr nahbar erscheinen lässt. Ein Buch, das nicht als Biographie verstanden werden kann, sondern als Roman und als Einblick in die Persönlichkeit, das Leben und das Schaffen der bedeutenden Theoretikerin, Publizistin und Lyrikerin. Die Handlung beginnt im Jahr 1975 und Hannah Arendt ist von New York auf dem Weg nach Tegna, in der Schweiz. Der lange Flug und nun die Zugreise wirken ermüdend. Sie nimmt die vorbeihuschende Landschaft nur beiläufig auf. Sie dämmert ein und träumt erneut den Traum vom Glaskasten, der sie seit dem Eichmann-Prozess heimsucht. Im Tessin möchte sie eine Art Urlaub verbringen. Die Gedanken sortieren und die Umgebung auf sich wirken lassen. Die Wochen ihres Sommerurlaubs in Tegna wechseln regelmäßig mit Rückblenden und Erinnerungen aus ihrem Leben. Die gesuchte Erholung und das ländliche Refugium werden zu einer Reise in die Vergangenheit und den Orten: New York, Berlin, Paris, Marseille, Jerusalem und Rom. Es verwischen sich Fakten und Fiktion und somit bildet sich ein großes Bild und man erlangt mit den Erinnerungen der fiktiven Hannah Arendt einen enormen Eindruck von Wirken und Leben der realen Persönlichkeiten und Ereignisse. Hildegard E. Keller schreibt sehr gekonnt und mit viel Wissen und Empathie. Die Romanhandlung ist durch die historischen Fakten inspiriert und wird durch diese ergänzt. Somit kommt Hannah Arendt durch Quellen gestützt selbst zu Wort. Die Verfolgung von Juden in der Zeit des Nationalsozialismus bewogen sie zur Emigration aus Deutschland. Sie hat sich lebenslang mit der Freiheit und der Gleichheit beschäftigt. Sie war philosophisch und politisch hoch gebildet und hat mit ihren Worten vieles bewegt und verändert. Durch diesen Roman meinen wir Hannah Arendt besser kennenzulernen. Durch das Alltägliche wird die welterfahrene Frau persönlich. Durch die Bildhaftigkeit und die Fiktionalisierung kann dieser Roman auch als gelungener Einstieg gesehen werden. Das Buch erzeugt einen Wunsch, sich ausführlicher mit Hannah Arendt zu beschäftigen, sofern noch nicht geschehen. Es sind keine Vorkenntnisse von Nöten, um diesen Roman gänzlich zu erfassen. Das Buch ist sehr einfühlsam, wissenswert und umfangreich geschrieben. Durch den Wechsel zwischen den Rückblicken und dem Aufenthalt im Tessin mit den Urlaubserlebnissen nebst Vogelbeobachtungen bekommt der Roman etwas Leichtes. Die Fülle, die Tiefe und die Schwere werden durch die beschriebenen Sommermonate aufgelockert. Hildegard E. Keller hat mit ihrem Debüt ein faszinierendes Werk über eine der bedeutendsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts geschaffen.