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Buchhandlung Almut Schmidt Kiel

Posted on 11.6.2021

Ein Roman, der begeistert und auch, will man ganz eintauchen, vom Leser etwas mehr verlangt. Man liest und möchte immer mehr erfahren und nebenbei selbst recherchieren. Trotz der erlesenen, dunklen Geschichten birgt alles stets einen Keim der Hoffnung von Menschlichkeit und Frieden. Man spürt auf jeder Seite, dass Colum McCann Schriftsteller und Journalist ist. Er macht aus einer gehörten und wahren Geschichte etwas Eigenes, etwas Großes. Man möchte von einem Meisterwerk sprechen. Er lernt die beiden Protagonisten kennen und lauscht tief gerührt deren Geschichten. Lange hat er dann an den Themen gearbeitet, diese emotional verdaut, weiter recherchiert und letztendlich einen Roman geschrieben. Ein Roman, der auf Wahrem beruht, aber immer Fiktives zulässt. Der Inhalt und das literarische Werk bauen sich immer tiefgründiger auf und zeigen, es gibt immer viel mehr Möglichkeiten, Sichtweisen und Seiten als man denken oder anfänglich sehen möchte. Dies erklärt den Titel. Apeirogon ist eine zweidimensionale geometrische Figur mit einer gegen unendlich gehenden Zahl an Seiten. Der Roman handelt von Rami Elhanan und Bassam Aramin. Beide Männer sind Familienmenschen und Väter. Ihr Leben ist symmetrisch und asymmetrisch und sie werden Freunde. Beide benötigen aber zum Beispiel für dieselbe Wegstrecke unterschiedliche Fahrtzeiten. Rami ist Israeli und Bassam ist Palästinenser. Der Roman beginnt mit einer Motorradfahrt und als Leser fährt man mit und taucht ein in einen Text, der sich immer weiter auffächert. In der Mitte stehen die beiden Männer und der ganze Palästinakonflikt wird in seiner Komplexität immer deutlicher. Die Lesereise startet in Jerusalem, Bait Dschala über diverse Checkpoints, Ortschaften, Siedlungen und politischen sowie familiären Zusammenkünften. Es ist ein Reigen aus Schmerz, Verlust und der Frage nach Menschlichkeit. Rami und Bassam schildern den Verlust ihrer Töchter. Smadar, Ramis Tochter, wurde 1997, als sie dreizehn Jahre alt war, von einem palästinensischen Selbstmordattentäter getötet. Abir, Bassams Tochter, gerade zehn Jahre alt, wird 2007 von einem Gummigeschoss eines israelischen Polizisten getötet. Hiermit baut sich die persönliche Geschichte der Protagonisten auf. Es werden in Folge immer neue Seiten und Facetten aufgeblättert und letztendlich entsteht ein literarisches, kunstvolles Gebilde. Der persönliche Schmerz und Verlust schnüren einem die Luft weg und die Beschreibungen sind bildhaft und voller Empathie. Detail- und faktenreich ist der Text aufgebaut und berührt und bildet ungemein. Der Bogen spannt sich über den Palästinakonflikt bis zum Holocaust. Auch wenn es ein Werk von McCann ist, versteht er sich selbst zu reduzieren und Bassam und Rami kommen selbst zu Wort. Es ist ein Buch, das den menschlichen Schmerz, den Verlust einfängt und stets die Frage nach der Möglichkeit eines friedvollen Miteinanders stellt. Ein Kampf um Frieden. Kampf und Frieden hier vereint zeigen die Vielschichtigkeit des menschlichen Lebens. Es gibt, wie bei dem Apeirogon, in der Betrachtung der Zweidimensionalität immer viel mehr Seiten. Im Leben und in der Welt gibt es Grenzen, die erkannt, überwunden und gelöst gehören. Grenzen, die ein Vogel von oben im Überflug nur belächeln kann. Colum McCann versetzt sich gekonnt in seine Figuren und schöpft aus deren wahren Erlebnissen. Er hat ein großartiges Buch geschrieben. Das Buch wurde aus dem Englischen übersetzt von Volker Oldenburg.

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