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anne_hahn

Posted on 4.6.2021

Foxfire – Die Geschichte einer Mädchenbande "Zwischen dem dreizehnten und siebzehnten Lebensjahr gehörte ich FOXFIRE an, und FOXFIRE gab jenen Jahren ihre Weihe. Von den letzten Monaten mal abgesehen. Wir lebten in Hammond, einer Stadt im Norden des Bundesstaates New York, unweit des Ontario-Sees. Alle FOXFIRE-Schwestern waren dort geboren worden, und wir hätten uns damals nicht vorzustellen vermocht, je von dort fortzugehen - es war wie ein Traum, der einem, solange man ihn träumt, als Unendlichkeit erscheint, aus welcher man nie erwachen kann." Vor drei Wochen spielte mir ein Freund dieses schiefgelesene und leicht ausgeblichene Taschenbuch von 1997 zu, er hätte beim Lesen an mich denken müssen und empfahl mir Foxfire von Joyce Carol Oates als beeindruckend, berührend und lustig-radikal. Die beiden Bücherstapel am Bett ignorierend, begann ich sofort zu lesen. (Die Coverabbildung mit den stilisierten Hochhausfassaden täuscht, Hammond ist eine Kleinstadt mit Villenviertel, zentraler Einkaufsstraße, Unterstadt und Fluss.) Der Mädchengang-Roman erwischte mich bereits auf der ersten Seite mit obigen Zeilen. Legs Sadovsky, lese ich weiter, hatte bei FOXFIRE das Kommando und war auch die einzige, welche dafür das nötige Selbstvertrauen besaß. Außerdem riskierte sie es, sich lächerlich zu machen. Ihr gegenüber konnte man einfach keinen Neid empfinden. Es war, als würde alles, was sie im Laufe der Zeit tat, auf eine riesige Leinwand projiziert, in Technicolor, wo es Gegenwart blieb und nicht wie das Tun der meisten Leute in Vergessenheit geriet. Diese Zeit ist die Mitte der Fünfzigerjahre. Soweit zurück geht der Roman? Ich blättere unruhig hin und her, lese erstaunt; diese 383 Seiten Foxfire – Die Geschichte einer Mädchenbande wurden 1993 erstmals auf Englisch (als Firefox. Confession of a Girl Gang) publiziert, 1995 bei DVA auf Deutsch. Ich muss zugeben, bis hierher noch nichts von Joyce Carol Oates gelesen zu haben – und nun das. Ein Buch, das mich mitnimmt, wie Das Herz ist ein einsamer Jäger. Ja, die Sprache ist beeindruckend, die Handlung berührend, der Subtext radikal. Das Mädchen Maddy / The Monkey / Der Killer ist Schriftführerin der stetig wachsenden Bande aus der Unterstadt, die sich deutlich von Männern abgrenzt. Männer bereiten Schmerzen, sind besoffen oder abwesend. Abgrenzung ist der erste Schritt, Rache der zweite – und der Schritt zum bewussten Quälen nicht weit. Hier beginnt die Gratwanderung. Die Bande gibt sich Regeln, brennt das Feuer als Flamme in die Haut. Was hätte es für einen Zweck, wenn die Verschwörung Selbstzweck bliebe? "Schwörst du feierlich dich deinen Schwestern in FOXFIRE zu weihen -ich schwöre- dich der Vision von FOXFIRE zu weihen -ja das schwöre ich- stets mit deinen Gedanken bei deinen Schwestern zu sein sowie du es auch von ihnen erwartest -ich schwöre- in der bevorstehenden Revolution des Proletariats in der bevorstehenden Apokalypse im finsteren Tal des Todes und unter physischer und seelischer Folter -ja das schwöre ich- niemals deine..." Klingt krude? Es ist ein Rausch. Wenn man sich einlässt auf diese Unbedingtheit von Dreizehn-, Vierzehnjährigen, diese Absolutheit und – Unschuld. Ich bin begeistert, fiebere mit, wie die Mädchen ihr Erkennungszeichen anbringen (auf die Schultern tätowiert, auf Hauswände gemalt) und ihre Symbole in der Öffentlichkeit zeigen, den orangeroten FOXFIRE-Seidenschal mit dem speziellen Knoten, die schwarze Reißverschluss-Cordjacke in Übergröße, auf der linken Brustseite die mit Zwirn eingestickte Abkürzung FXER. Die Aktionen der Gang werden radikaler, ein Lehrer (alle FOXFIRE-Mädchen waren an einer Schule) ist aus der Stadt gemobbt, ein Kaufmann drastisch in seine Grenzen gewiesen. Knapp nach der Hälfte des Romans klaut Legs ihrer Bande ein Auto und nach einer wilden Verfolgungsjagd, die alle Mädchen überleben – muss Legs (Margaret) in eine Besserungsanstalt für minderjährige Mädchen. Wie sie in der Anstalt um ihr Selbst ringt, wie das Leben und Handeln der Gang nach Legs' Entlassung an Fahrt aufnimmt und einem Schnellzug gleich davon donnert, ist überzeugend inszeniert und grandios geschrieben. Fragen bleiben. Welche Voraussetzungen braucht es, dass eine Mädchenbande über längere Zeit besteht? Gibt es berühmte Beispiele? Warum ist dieser Roman im deutschen Feuilleton nie besprochen worden? Warum hat die New York Times das Buch verrissen? Gibt es andere Romane über Mädchengangs? Weshalb steht Oates' Roman Blond ungelesen bei mir rum? Wieso müssen alle Bücher einmal enden? "In einer von unseren alten FOXFIRE-Phantasien der Anfangszeit trugen wir Tiermasken, liefen am hellichten Tag die Main Street entlang, schlugen die Schaufenster von Sparkassen, Versicherungsgesellschaften und Banken ein und von bestimmten Luxusgeschäften, von Juwelieren und teuren Kleiderläden, die diese auf dunkle und unheilvolle Weise faszinierenden Dekorationen mit gertenschlanken, völlig ungerührt dreinschauenden Schaufensterpuppen hatten, an denen Seidenstoffe, seidenweiche Wollstoffe, Pelze und hauchdünnes Gewebe hingen. FOXFIRES GERECHTIGKEIT FOXFIRES ZORN - und wie das Glas in Stücke sprang, wie die Scherben durch die Luft flogen, glitzernd herabfielen und sich lautlos in Menschenfleisch bohrten..."

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