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gwyn

Posted on 3.6.2021

Der Anfang: «François Villemin öffnete die Tür zum Anatomischen Theater, das ihm die Universität Touer für seine Vorlesung zur Verfügung gestellt hatte, und bat die Studenten, Platz zu nehmen. ‹Ich heiße Sie herzlich willkommen.» Herzlich willkommen liebe Studierende! Der Erzähler ist gesetzt, wir schreiben das Jahr 2019 und gehen sogleich zurück ins Jahr 1949, um bald ins Jahr 1986 zu wechseln, zu Sandrine. Was für ein Psychodrama! Ein Psychothriller, der einen Sog entwickelt, der zumindest mich ab der Mitte nicht mehr losließ! Alles beginnt, als die Journalistin Sandrine sich auf eine kleine Insel vor der Küste der Normandie begibt. Hier verstarb kürzlich ihre Großmutter, die sie nie kennengelernt hatte. Auf dieser Insel wohnen nur eine Hand voll Menschen, skurrile Typen, die das abgeschiedene Eiland bis zu ihrem Tod nicht verlassen werden – ein Versprechen. Eisig und düster empfängt die Insel Sandrine im Regen, eine unheimliche Aura umgibt die tote Siedlung. Was macht sie hier?, denkt sie sich. Gleich morgen wird sie verschwinden. Doch dann erfährt sie, das Boot fährt nur einmal wöchentlich. Und die Geschichte um das Kinderheim und über die ertrunkenen Kinder macht die Sache nicht besser ... Am Midpoint kippt der Plot in eine ganz andere Richtung. Sandrine wird am Strand vom Festland durch einen Jogger aufgefunden; sie hat Blut an ihrer Kleidung, das nicht ihr selbst zugeordnet wird. Kommissar Damien Bouchard ermittelt. Was hat es mit der merkwürdigen Geschichte um den Erlkönig auf sich? Viel mehr wird nicht verraten. Die Geschichte ist wendungsreich, und am Ende hat François Villemin wieder das Wort, schließt seine Vorlesung mit einem einem Schluss, den der Leser so gar nicht erwartet hatte. Ein Einblick in die Tiefenpsychologie, psychische Erkrankungen, die aus einem Erlebnis von Gewalt und / oder Missbrauch herrühren. Das Errichten von Refugien in der eigenen Vorstellung, um Leid zu ertragen. «Les Refuges», wie der Titel des Romans im Original heißt. Spannungsgeladen führt die Handlung den Leser an der Nase herum. Was ist wahr und was ist erdacht? Bojen und Anker setzen, die Fiktion und Erlebnis im Sturm des Ertragbaren miteinander verbinden. Ein fein psychologisch ausgearbeiteter Plot, der hinter die Kulissen einer Art von Psychosen blicken lässt. Meine Empfehlung! Jérôme Loubry, geboren 1976, lebt nach Stationen im Ausland heute in der Provence. Für Die Hunde von Detroit, sein Debüt, hat er 2018 den Prix Plume libre d’Argent gewonnen. Der Erlkönig wurde 2019 mit dem Prix Cognac du meilleur roman francophone, einem der renommiertesten Krimipreise Frankreichs, ausgezeichnet. Er gilt als der aufsteigende Stern am französischen Krimihimmel.

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