anne_hahn
" An einem Morgen im Mai des Jahres 1986 lief ich das letzte Mal zusammen mit meiner Mutter in den Kindergarten. Sie hielt meine Hand, und wir sprachen vom Sommer, der bald kommen würde, und davon, dass wir nachmittags mit Vater an den See fahren könnten und bald auch an die Ostsee, worauf ich mich am meisten freute." Nach einer wahren Begebenheit – müsste warnend in großen gelben Buchstaben auf dem Cover stehen. Über dem Titel des zweiten Romans von Matthias Jügler Die Verlassenen steht jedoch eine Vier-Wort-Empfehlung des Autos David Wagner in gelbem Rund: zärtlich, traurig, schmerzhaft, schön. Das stimmt. Alles. Dieses Buch ist anrührend, wie auch der Verlag befindet. Warum macht es mich dann so wütend? Johannes Wagner heißt die Hauptfigur des Romans. Der Ich-Erzähler wird zu Beginn des 170 Seiten schmalen Buches von seinem Vater bei der Großmutter abgegeben und der Vater verschwindet - für immer. Wir gehen mit dem Jungen durch einige Jahre der Kindheit und Jugend, erleben den Tod der Großmutter mit, sein Studium, das Aufkommen der Liebe - bis zur einsamen Gegenwart. Die Szenen der Erinnerung sind versetzt geschnitten - und ziemlich perfekt. Mich nahmen die Sprache und die Trauer, die aus jeder Zeile springt, sofort gefangen. " Ein halbes Jahr nach ihrem Tod sah ich Mutter in der HO vor den Konserven stehen. Sie trug eine gelbe Jacke, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Ich zögerte, weil ich mir auf einmal nicht mehr ganz sicher war, ob die Frau, die dort stand, wirklich meine Mutter war, oder nur so aussah. Doch, das musste sie sein." Der Junge bleibt allein mit seiner Trauer, der Vater kann ihm nicht helfen. Schließt sich selbst ein und heult wie ein leiser Wolf. Johannes aber will dem Vater helfen - eine Aufräumaktion des Arbeitszimmers endet für das Vorschulkind in noch größerer Isolation, der Vater spricht zwei Wochen nicht mit ihm - nach diesem einen Satz: "Du hast vierzehn Jahre Arbeit vernichtet". Wolfgang, der alte Freund des Vaters kommt nun täglich und hilft beim Sortieren der Manuskriptseiten. Tröstet den Jungen, scherzt mit ihm, der nicht erfährt, woran der Vater eigentlich arbeitet. "Er war der einzige von Vaters Freunden, der sich ernsthaft für mich interessierte, mit dem ich über Fußball sprechen konnte, über Briefmarken und kurz vor Vaters Verschwinden auch über Mädchen, aber das interessierte mich damals noch nicht sonderlich." Nach der Hälfte des Buches sind wir in der Gegenwart angelangt und reisen mit Johannes nach Norwegen, auf den Spuren eines Briefes, den er in einer Bücherkiste seiner Eltern gefunden hat. Ich war an dieser Stelle schon ganz kribbelig vor lauter Fragen, woran ist denn die Mutter nun gestorben, was ist mit dem Vater und was wusste die Großmutter? Das Tempo der Erzählung verlangsamt sich, der Ich-Erzähler begibt sich minutiös in die Eingeweide der Vergangenheit, die in der norwegischen Einöde auf ihn lauert. Er trifft die Briefe-Schreiberin Inger und sie erzählt ihm alles. Ab jetzt sollten Sie nicht weiterlesen, wenn Sie das Buch selbst für sich entdecken wollen. Ich muss loswerden, was mich ab Seite 115 des Romans so fassungslos machte. Zunächst die handschriftliche IM-Verpflichtung Wolfgangs, die dort als Bild eingefügt ist, krakelige Schrift auf kariertem Papier. Datiert: Halle, den 3.6.1981. Diese Erklärung sieht echt aus, ich halte die Luft an und blättere weiter, tatsächlich, Fotos, Berichte, eine Stasi-Akte! Aber etwas stimmt nicht, die BSTU-Stempel fehlen, Dienststellenbezeichnungen und Unterschriften der MfS-Führungs-Offiziere. Auch wenn ich schon oft für Recherchen echte IM-Berichte in den Händen hatte, mich durch Überwachungsfotos und Akten gewühlt habe, diese Anmutung in einem Roman zu finden, überrascht mich. Dann sehe ich den schreibmaschinegetippten Beobachtungsbericht zum IM Stefan alias Wolfgang vom 26. Mai 1986: 15.38 Uhr trifft Stefan vor dem Haus Manfred Böhms ein, Ludwig-Wucherer-Straße 69, um dann bis 15.55 Uhr die Straße auf und ab zu gehen und sich dann auf eine Bank vor der Fleischerei Steebe zu setzen. 15.58 Uhr läuft Annegret Wagner auf Stefan zu, der aufsteht [...] Bis 16.00 Uhr unterhalten sie sich. Dann beginnt sie ihn leicht zu schubsen und mit ihrer Tasche nach ihm zu schlagen. Stefan stößt Annegret Wagner demnach auf die Straße. In der Folge stürzt sie und wird von einem Auto erfaßt und tödlich verletzt. Ich bin schockiert. Also ist die ganze Konstruktion, die Erzählung eines verlassenen Kindes Produkt einer Verratsgeschichte? Einer Stasi-Aktion? Was steckt dahinter, wie kommt ein junger Autor auf solch eine Geschichte? Ich recherchiere und werde fündig. Anlässlich der Lesung aus dem Roman im Mitteldeutschen Rundfunk führte eine Journalistin kürzlich ein Gespräch mit Matthias Jügler, in welchem er die Schablone seines Stoffes als Verratsgeschichte mit tödlichem Ausgang im Hallenser Künstlerkreis aufdeckt. Und erzählt, wie er die Akten "hergestellt" hat. (hier berichtet der Autor u.a. von der Fiktionalisierung des Stoffes) Das ist ehrgeizig, für einen Roman über eines der dunkelsten DDR-Kapitel mir jedoch zu wenig. Für mich verrutschte mit der unerwarteten Wendung der Geschichte der Charakter des Gelesenen. Von der komprimierten Leidens-Prosa, der schönen Sprache eines verlassenen und verlassenden Menschen blieb lediglich eine konstruierte Hinführung zum Showdown übrig, der Gegenüberstellung Johannes - Wolfgang. Stasi-Opfer trifft auf Stasi-Täter und was passiert? Opfer geht wortlos ab, lässt Täter in neuer Identität mit neuer Familie zurück. "Auf einmal fühlte ich mich verantwortlich für Wolfgangs Frau und seine Kinder, die ja nichts dafür konnten."