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jankuhlbrodt

Posted on 29.5.2021

Es gab noch keine Literaturhäuser. Aber es gab Zirkel in Betrieben der DDR: einmal in der Woche trafen sich dort Arbeiterinnen und Arbeiter, um ihre literarischen Texte zu diskutieren, meist unter Anleitung eines professionellen Autors oder einer Autorin. Anne M. N. Sokoll hat bei [transkript] eine umfangreiche Studie zur Bewegung „schreibender Arbeiter“ in der DDR vorgelegt. Spannend ist dieses Buch in vielerlei Hinsicht. Es hebt damit an, dass die Bewegung in einen Kontext ästhetischer Debatten der späten Sechziger Jahre in der Bundesrepublik gesetzt wird, oder zumindest mit dem Beuysschen Diktum, dass jeder ein Künstler sei, konfrontiert. Aber das dient dem Buch nur als Intro, jedoch schon hier kann man sich abwehrender Reaktionen vor allem ostdeutscher Rezipienten meines Alters ausrechnen. Denn sie können sich noch allzu gut an die repressive Kulturpolitik des „Leselandes“ DDR erinnern. Das ist wahrscheinlich die Crux der Zeitzeugenschaft: Man meint, weil man dabei oder zumindest irgendwo in der zeitlichen Gegend anwesend war, einen besseren priveligierten Zugang zum Thema zu haben. Mir scheint jedoch, dass ein gewisser zeitlicher und Räumlicher Abstand die Konturen schärft und vor allem die Emotionen aus der Wahrnehmung nimmt. Ich musste und konnte bei der Lektüre zumindest einige meiner Positionen zum Thema überprüfen und auch korrigieren. Sokoll beleuchtet das Phänomen der „schreibenden Arbeiter“ aus den verschiedensten Richtungen, ordnet es historisch ein und legt Traditionslinien offen, die in die Weimarer Republik, aber auch bis ins neunzehnte Jahrhundert zurückreichen. Insofern kann man durchaus von einem emanzipatorischen Strang sprechen. Und auch der utopische Ansatz des Beginns der Bewegung in den Anfangsjahren der DDR; der der Vorstellung anhing, die Arbeitswelt sozusagen zu humanisieren und die Klassenspaltung zu überwinden, wird in der Arbeit dargestellt, als Anspruch natürlich und nicht als Gelungenes. Diesem Anspruch stand immer auch der Versuch der Vereinnahmung durch die SED und ihrer ideologischen Ausrichtung gegenüber, wie die Autorin angesichts zahlreicher Dokumente belegt. Überhaupt ist die Studie ungemein Materialreich.. Die Vereinnahmung der Bewegung durch Staat und Partei ist jedenfalls weit besser gelungen, als dass sie ihren formulierten Anspruch zu verwirklichen wusste. „Die Bewegung der schreibenden Arbeiter wurde seit den 1960er Jahren zunehmend durch 'von oben' vorgenommene Strukturierungs- und Kanonisierungsprozesse geprägt, die nicht nur auf systemischer; institutioneller und organisatorischer Ebene vollzogen wurden, sondern ein sozialistisches ästhetisches Konzept für das Schaffen der Laienautoren propagierten.“ Die Vorstellung eines freien künstlerischen Schaffens aus der Arbeitswelt heraus wurde also in die Zange genommen und versucht, zu propagandistischen Zwecken für die SED auszuschlachten. Das schlug sich letztlich auch in Publikationen, wie einem „Handbuch für schreibende Arbeiter“ nieder, das der ideologischen Kanalisierung noch den Anstrich einer künstlerischen Notwendigkeit geben sollte. Der Aufwand aber, der betrieben wurde, um die künstlerische Energie, die sich im Arbeitsprozess entwickelte, beziehungsweise die zu entwickeln man diesem Prozess unterstellte, war enorm. Was letztlich auch für die Vorstellung einer der Kunst innewohnenden subversive Kraft spricht. Und das Buch verstärkte letztlich eine Beobachtung, die ich sowohl als Student als auch als Dozent an verschiedenen künstlerisch-literarischen Ausbildungsstätten gemacht habe: die soziologische Eintönigkeit, die der Klassenstruktur der Gesellschaft nach wie vor Ausdruck verleiht, die durch die „Bewegung schreibender Arbeiter“ anfangs zumindest überwunden werden sollte, steht nach wie vor im Raum und bedingt auch die relative Einförmigkeit der Stoffe. Insofern ist das Buch auch das Dokument eines nach wie vor ungelösten politischen und ästhetischen Problems.

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