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jankuhlbrodt

Posted on 23.5.2021

Im Buch wird ein Schulausflug geschildert, auf dem die Schülerinnen und Schüler des Nachts einen Sternschnuppenregen betrachten. Darin findet sich folgender Satz: „Wera dachte, das in einem der Blitze vielleicht der Pilot Pirx durch den Himmel raste, über den ihr Vater ihr vor dem Schlafen Geschichten vorlas.“ Dieser Satz war für mich, als Fan des polnischen Autors Stanislaw Lem, auch so ein Blitz. Das plötzliche Auftauchen eines Raumschiffes in dörflicher Umgebung. Das Sternschnuppenhafte einer Tradition. Aber angesichts der Biografie Lems als polnischer Jude, der den Abtransport vieler Angehöriger durch die Nazis erleben musste, wiederum auch naheliegend. Dräuendes Unheil. Jakub Małecki erzählt in seinem Roman „Rost“ die Geschichte der Verschränkungen der Gegenwart mit der Vergangenheit, mit den dramatischen Ereignissen des vergangenen Jahrhunderts, ausgelöst durch den Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939. Dem deutschen Leser führt er vor Augen, wie absurd der Gedanke ist, einen Schlussstrich unter die Geschichte zu ziehen, wie von manchen Politikern gefordert wird. Der von den Deutschen ausgelöste Krieg hat die Gefüge nachhaltig zerrüttet, nicht nur im staatlichen, sondern vor allem auch im privaten Sinne, hat Lücken gerissen, die nicht geschlossen werden können. Bis hin in die Körperlichkeit. Tosja, einer der Hauptfiguren des Romans, fehlen zwei Finger, die sie als Kind beim Holzhacken eingebüßt hat, als sie und ihre Familie ihr Haus verlassen musste, weil sie von Deutschen vertrieben wurden und bei Goralen in der Tatra Zuflucht fanden. Der Roman erzählt parallel und im Wechsel zwei Geschichten, die eben in jenem zeitlichen Abstand verlaufen. Verbunden werden sie durch ein dramatisches Ereignis in der Gegenwart. Szymeks Eltern kommen, als er im Vorschulalter ist, bei einem Autounfall ums Leben und der Junge lebt fortan bei seiner Großmutter Tosia, muss bei ihr leben, wie sie ihn auch aufnehmen muss. Sie bilden also eine Schicksalsgemeinschaft. Aus dieser Situation heraus wird das Aufwachsen des Jungen erzählt, durchbrochen von Tosias Geschichte, ihrer Kindheit und Pubertät, ihrer Erwachsenenjahre; und ihrer Liebe zu einem „Unsichtbaren“, einem Mann, den sie als Mädchen auf einem Dorffest sieht, und der ihr nicht aus dem Kopf geht, der später Aufgrund dramatischer Ereignisse (Er sieht den Platz eines Massakers an Juden.) nahezu den Verstand verliert, für einen Moment aber mit Tosias Hilfe so etwas wie ein normales Leben auf die Reihe zu bekommen scheint. Und sich dann aber selbst tötet. Es gibt die Wendung, eine Geschichte spiele vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges. Aber diese Wendung stellt sich angesichts dieser Erzählungen als absurd heraus. Der Krieg ist niemals nur Hintergrund, sondern greift immer in die Beziehung der Menschen ein, bestimmt ihre Wege und selbst, wenn er abwesend scheint, ist er als Abwesender präsent. Renate Schmidgall, die den Roman übersetzt hat, gelingt es, soweit ich das beurteilen kann, die sprachlichen Feinheiten, die in einer osteuropäischen Erzähltradition verankert sind, beeindruckend ins Deutsche zu bringen. Jedenfalls hatte ich das Gefühl, auf mir aus anderen polnischen, aber auch russischen oder ukrainischen Lektüren Vertrautes zu stoßen. Gerade wenn von der Kindheit in dörflicher Umgebung die Rede ist, aber auch von dem darüber dräuenden Unheil. Es ist ein aufwühlendes, aber in seiner sprachlichen Kunst großartiges Buch.

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