Profilbild von mrstrikehardt

mrstrikehardt

Posted on 22.5.2021

Als ich mir das Buch in den Händen hielt, habe ich mich gefragt, ob sich die Lektüre von 600 Seiten lohnen würde. Ich trinke nämlich selten bis gar nicht. Ob sich da Berührungspunkte finden lassen? Um das Fazit vorweg zu nehmen: Ich bin froh, es gelesen zu haben. Das Buch bietet so viel: Es ist Literatur- und Mentalitätsgeschichte. Jamison spürt nach, wie Alkoholkonsum literarisch dargestellt wurde, wie Schriftsteller:innen versucht haben, ihre Sucht als kreativen Ausbruch zu rechtfertigen. Ein wirkmächtiger Mythos, an dem sowohl die Autor:innen wie die Leser:innen auch heutzutage glauben wollen. Tatsächlich ist er in erster Linie (selbst)zerstörerisch. Hinzukommt die verquerte Wahrnehmung entlang der Geschlechter. Männer, die schreiben und trinken, gelten als Genies wie Hemingway oder Faulkner. Frauen, die schreiben und trinken, als missraten und rücksichtslos wie Marguerite Duras oder Jean Rhys. Das Buch bietet so viel: Es ist eine Autobiographie und eine Gesellschaftsstudie. Leslie Jamison erzählt von ihrer eigenen Sucht, ihren Rückfällen und dem langen Weg zur Genesung. Das 12-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker hat ihr hierbei geholfen. Dabei sind krasse Gegensätze sichtbar geworden. Der Anspruch individuell und einzigartig zu sein (wie es auch der Anspruch in der Literatur/ Kunst sowie in der Gesellschaft ist) und anzuerkennen, an der Sucht ist nichts einzigartig. Ich bin süchtig, wie viele andere auch. Hinzukommt, wie anhand von Drogenpolitik vor allem in den USA rassistische Segregation betrieben wurde und wird. Vor allem Minderheiten werden überproportional kriminalisiert und der Drogenkonsum als reine Willensentscheidung abgetan wird ("Just say no" lautete die Anti-Drogen-Kampagne von Nancy Reagan). Gesellschaftliche Faktoren wie Armut, häusliche Gewalt etc. werden ignoriert mit fatalen Folgen: volle Gefängnisse, zerbrochene Familien.

zurück nach oben