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sabinescholl

Posted on 19.5.2021

Bereits mit seinem ersten Roman formulierte Autor Joseph Andras seine Methode, Frankreichs Kolonialgeschichte anhand eines einzigen Schicksals zu verdeutlichen: „Ein Gesicht hilft, eine Vision zu umreißen, eine Geschichte trägt Die Geschichte.“ Im zweiten Buch Kanaky wendet er sich der weiterhin unter französischer Herrschaft stehende Überseekolonie Neu-Kaledonien zu und umreißt dabei auch das Aufgabenfeld des literarischen Autors gegenüber seinen Kollegen: „Der Journalist erforscht, der Historiker erklärt, der Aktivist erwirkt, der Dichter ergreift; bleibt dem Schriftsteller, seinen Weg zwischen diesen vier Brüdern zu suchen.“ Mit der pazifischen Insel betritt Andras literarisches Neuland. Wer weiß schon Genaueres über dortige Verhältnisse? Das „Gesicht“, dem er sich diesmal widmet, ist Alphonse Dianou, Anführer einer fehlgeschlagenen Revolte für die Unabhängigkeit vom mehr als 12.000 km entfernten Mutterland, deren Darstellung durch die offizielle Politik der Autor misstraut. Er reist in die ehemalige Strafkolonie Neu-Kaledonien, um die Umstände kurz nach einem Aufstand mit Geiselnahme an Gendarmen im Jahr 1988 aufzuklären. Damit erforscht er auch die Zustände vor Ort, das Wesen der Tribus, die Selbstbezeichnung Kanak, die nichts anderes als Mensch bedeutet, die Caldoches, Nachkommen französischer Siedler, welche inzwischen die Bevölkerungsmehrheit bilden. Überall trifft er auf den Schmerz, den Dianous Schicksal in Familie und Gemeinschaft zurückgelassen hat. Andras ist ein ruhiger, aber doch insistierender Forscher. Er lässt sich Zeit. Ohne sich auch menschlich den Verwandten und Vertrauten des Verstorbenen zu nähern, kann er nichts erfahren. Dabei vermeidet er jegliche Exotisierungen oder auch anthropologische Klassifizierungen. Den einzigen stilistischen Effekt, den er sich erlaubt, ist es, Wetterphänomene zu personalisieren, wie: „Der Himmel hat Durst und die Sonne ihren Spaß daran.“ „Im hellen Wasser schielt der Himmel nach sich selbst und kämmt seine Wolken.“ Gekreuzt sind die Darstellungen seiner Eindrücke und Gespräche mit Zitaten aus den offiziellen Berichten des Geschehens. Minutiös werden darin Verhandlungsschritte, Telefonate mit Entscheidern in Frankreich, bis hinauf zum damaligen Präsidenten Chirac festgehalten, die schließlich mit einer Erstürmung der Höhle enden, in die die Aufständischen sich mit ihren Geiseln zurückgezogen hatten. Es gibt Tote. Darunter auch Dianou. Vor allem der Widerspruch zwischen der vom charismatischen Führer stets verfolgten Gewaltfreiheit und der tödlichen Schießerei beschäftigt den Autor. Dianou war zeitlebens ein Verfechter christlichen Widerstands gewesen, ein Anhänger Gandhis. Wie war sein Wandel zu einem Kämpfer mit Waffengewalt vor sich gegangen und stimmte das überhaupt? Aufschlussreich sind auch die Überlegungen und Ausführungen der renommierten Übersetzerin Claudia Hamm auf der Webseite des Verlags, in denen ihre Annäherung an die bislang in literarischen Werken kaum erwähnte, komplexe Kultur der Kanak nachzuspüren ist: „Andras‘ Buch ist auffällig vielstimmig. Pluralität ist in Kanaky nicht nur inhaltliches Votum, sondern auch literarische Form. Ein Verzicht auf Deutungshoheit: Kanaky ist ein Buch, in dem viele verschiedene Figuren immer wieder die gleiche Geschichte erzählen – und zwar je verschieden. Ein Erzähler-Ich hält die verschiedenen Stimmen zusammen, doch ihre Vielzahl lässt eine Ahnung für die Konstellation dahinter entstehen. Ist die Konstellation das eigentliche Thema?“ Hamm recherchiert, trifft Fachleute, um das - einzelne Begriffe umgebende – Netz an Bedeutungen zu erforschen, die ihr bei der Wahl eines entsprechenden Ausdrucks im Deutschen hilft. https://www.toledo-programm.de/journale/2202/kanaky-zuhause-journal-zur-ubersetzung-des-romans-kanaky-von-joseph-andras Ein Anmerkungsteil mit geschichtlichem Aufriss, Quellenverzeichnis und Glossar beschließt dieses außergewöhnliche Buch eines Autors, der nichts über seine Person verlautbaren, sondern bloß seine Texte für sich sprechen lassen will, beispiellos in Zeiten der Hyperpersonalisierung, aber hilfreich im Bestreben, dem verfemten Dianou, seiner Kultur, seinem Lebensraum ein Denkmal zu setzen: „…ich möchte denen das Wort erteilen, um die es hier in erster Linie geht und nur ein Band sein, ein Erzähler, der nach Möglichkeit die weiterexistierenden, aber auch vergessenen Teile der Geschichte birgt; ich möchte die Gedächtnisse unserer beider Welten verknüpfen, und sei es nur mit einem dünnen Faden: das ihres gedemütigten Kanakys und das meines vergesslichen Frankreichs“.

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