Lenislesestunden
“Meine Gedanken aber hörte ich wie immer laut und deutlich. Keiner sagt einem sowas. Dass man eine Entscheidung fällt und dann noch eine und noch eine , dass diese aber nicht in einer Linie verlaufen, gerade nach vorne oder nach oben, sondern sich eher winden und in unförmigen Kreisen bewegen, wie wilde Tiere.” (S. 177) Olivias Leben ist vor allem von Abwesenheit geprägt: die ihres verstorbenen Bruders, die ihres Vaters, der sie und ihre Mutter zurückließ, und die ihrer Mutter, die seitdem unter Depressionen leidet und immer wieder in die Psychatrie muss oder wochenlang einfach verschwindet. Schon lange ist sie für Olivia nicht mehr greifbar, die Beziehung ist gekennzeichnet vom Schweigen über das, was geschehen ist, auch wenn es immer wieder Momente der Nähe gibt. Liv neigt zur Selbstzerstörung, sie trinkt zu viel, betrügt ihren langjährigen Freund, für den sie seit längerem keine tiefen Gefühle mehr hat, und flieht letztendlich zu ihrer Tante, bei der sie schon in ihrer Jugend so etwas wie ein sicheres Zuhause fand. Doch auch dort wird sie zunehmend mit ihrer Vergangenheit konfrontiert und beginnt schließlich, sich dem zu stellen, was jahrelang verdrängt wurde. Lea Catrina schafft es in ihrem Debütroman, Olivias Wut, Schmerz, Verletzlichkeit und Unsicherheit auf eine Art und Weise zu beschreiben, die mir sehr realistisch vorkam und die mich emotional direkt abgeholt hat, von der ersten Seite an. Ich hatte einen unheimlichen Drang, weiterzulesen, und konnte das Buch kaum aus der Hand legen. Man kann glaube ich bei diesen Themen relativ viel falsch machen - sie zu oberflächlich, zu glatt, zu klischeehaft, zu “schön” beschreiben - nichts davon passiert hier. Im Gegenteil, mir waren die Personen gerade durch ihre Fehlentscheidungen, ihre Zerrissen- und Verlorenheit so nah. Und so ist konsequenterweise auch der Schreibstil ein Auf und Ab, von hart, beleidigend, wütend zu poetisch, schmerzlich, hoffnungsvoll. “Die Schnelligkeit der Dämmerung” hat mich aufgewühlt zurückgelassen und vollkommen überzeugt.
