letterrausch
Ob man den Bachmannpreis nun mag oder nicht, ist die eine Sache. Aber dass er eine Institution im deutschsprachigen Literaturbetrieb ist, wird wohl kaum jemand bestreiten wollen. Jedes Jahr wieder werden von der Jury vierzehn Autorinnen und Autoren eingeladen, die sich mit einem unveröffentlichten Text dem Wettlesen vor Jury und Publikum stellen. Was man mit der Preisvergabe zu finden hofft: talentierte junge Autoren, neue Stimmen, den nächsten großen Autor oder die nächste große Autorin im deutschsprachigen Raum. Insofern war es eine Sensation, als letztes Jahr die 80jährige Helga Schubert nicht nur die bisher älteste Teilnehmerin des Bewerbs war, sondern mit ihrem Text „Vom Aufstehen“ auch den Preis abräumte. Ein später Sieg, denn 1980 war sie schon einmal zum Wettlesen eingeladen worden, doch als DDR-Schriftstellerin hatten ihr die Behörden die Ausreise verweigert. Im Sommer 2020 nun also der Bachmannpreis, ihr Text, der Rummel um ihre Person und die Begeisterung des Feuilletons über diese späte Entdeckung. Dabei hat Helga Schubert immer geschrieben: Kinderbücher und Drehbücher und Theaterstücke. Und trotzdem hatte sie niemand so recht auf dem Schirm, weshalb man sie jetzt als kleine Sensation feiert. Und zwar vollkommen zu recht. Im Frühjahr 2021 ist jetzt dieser Bachmann-Text als Teil ihrer Sammlung von autobiographischen Erzählungen erschienen. In 29 mal kürzeren und mal längeren Erzählungen, Skizzen, Reminiszenzen, Gedankenstücken umreißt Helga Schubert ihr Leben, das in vielem exemplarisch für eine ganze Generation zu nennen ist: „Ich bin ein Kriegskind, ein Flüchtlingskind, ein Kind der deutschen Teilung“, sagt sie von sich selbst. 1940 wird sie während des Zweiten Weltkriegs geboren, der Vater fällt an der Front, die Mutter flieht mit ihr im Treck vor den einmarschierenden Russen. Überhaupt wird die Mutter, eine kühle und übermächtige Frau, in „Vom Aufstehen“ immer wieder eine Rolle spielen. Helga Schubert braucht mehrere Anläufe, um ihren Frieden mit der Mutter zu finden, die erst mit 101 Jahren stirbt. Weiter geht das Leben in der DDR, in der sie sich eingesperrt fühlt – geistig wie auch geographisch. Sie arbeitet als Psychologin und schreibt; flieht nicht und ist 1989 ganz vorn mit dabei, als die Mauer fällt. Später zieht sie mit ihrem Mann in ein kleines Dorf in Mecklenburg Vorpommern, dort lebt sie auch heute noch. Das alles reißt sie in ihren Geschichten an, die so unglaublich persönlich sind, und in denen sich doch ganze Generationen Ost- und Westdeutscher wiedererkennen werden. Die Generation der Kriegskinder, die mit dem Trauma des gefallenen Vaters fertig werden musste, die Generation DDR, die weiß, wie es sich anfühlt, wenn die Diktatur in jeden Winkel des persönlichen Lebens vorzudringen vermag, die Generation Nachwende, die persönliche Freiheit und die Freiheit des Denkens zu schätzen weiß. Helga Schubert denkt, hat sie in einem Interview gesagt. Sie denkt immerzu, formt eine Erzählung in ihren Gedanken, bis sie den letzten Satz vor Augen hat. Und dann schreibt sie die Geschichte nur noch in einem Rutsch nieder. Und auch wenn ihre Erzählungen tatsächlich oft assoziativ wirken, so sind sie doch bis in letzte Detail hinein durchkomponiert und auf einen Punkt hingeschrieben – nämlich diesen letzten Satz. Das unglaubliche schriftstellerische Talent dieser Autorin und ihre 80 Jahre Lebenserfahrung durchtränken jeden ihrer Sätze. Kein Wunder, dass man sich oft dabei erwischt, wie man beim Lesen zustimmend nickt oder den Bleistift zückt, um eine Passage anzustreichen. Denn so vieles möchte man zitieren, sich auf eine Karte schreiben und in der Handtasche herumtragen, denn so starke Sätze können im Alltag nur tröstlich sein und helfen. Helga Schubert findet Worte für die Erfahrung des Krieges, der Diktatur, des Christseins und des Älterwerdens eingebettet in eine Landschaft. Wenn sie ihre verbleibenden Lebensjahre daran bemisst, wie oft noch das Getreide auf dem Feld neben ihrem Haus gemäht werden wird, dann ist das ein ganz starkes Bild. So wie „Vom Aufstehen“ voll ist von starken Bildern. Es bleibt zu hoffen, dass die Muse Helga Schubert auch weiterhin küsst und dieser späte Erfolg sie zu weiteren Texten inspiriert. Und sollte nichts Neues von ihr erscheinen, so kann man Helga Schubert doch weiter literarisch entdecken, denn DTV wird diesen Sommer zwei alte Bücher von ihr neu auflegen: „Judasfrauen“ von 1990 und „Die Welt da drinnen“ (2003). Für Nachschub ist also zum Glück gesorgt!