Lenislesestunden
“Ein Jahr der Selbstdisziplinierung, die all das auszutreiben versucht, was kollektiv und sozial ist. Alle Bewegungen aufeinander zu: abgebremst und unterbrochen. Alle Berührungen der Haut, alle Umarmungen: eingehegt und aufgespart.” (S. 237) Im Rahmen eines Projektes der Süddeutschen Zeitung hat Carolin Emcke vom 23. März bis zum 29. April ein Journal geführt - ein “Tagebuch in Zeiten der Pandemie”. Die Texte lassen sich nach wie vor online finden, sind nun aber auch in Buchform erschienen. Carolin Emckes Gedanken zeichnet vor allem ihre Weitsichtigkeit aus. Sie betrachtet die Pandemie aus einer sehr umfassenden, globalen Perspektive und kommt immer wieder auf die Menschen zu sprechen, die sie ganz besonders hart trifft. Ihre Einschätzungen zu politischen Geschehnissen und Entscheidungen, sowohl innerhalb Deutschlands als auch international, waren meiner Meinung nach sehr treffend und interessant zu lesen. Genau so ihre Beschreibungen von Einsamkeit, Unsicherheit, von erzwungenen neuen Ritualen und den verzweifelten Momenten, in denen man nicht weiß, wie man diese Situation noch länger ertragen soll. Ich war im Vorhinein etwas skeptisch, ob mich das Buch quasi noch mehr runterziehen würde. Und es ist definitiv keine besonders “erbauliche” Lektüre, klar, gerade auch, weil so viele Missstände, die durch die Pandemie noch einmal besonders ans Tageslicht kommen, detailliert beschrieben werden. Trotzdem hat mir das Buch auch geholfen, denn es gab mir das Gefühl, nicht allein zu sein mit dieser Ohnmacht und Angst. Carolin Emcke hat an vielen Stellen das in Worte gefasst, was ich seit mehr als einem Jahr nie richtig artikulieren konnte. Und das tat irgendwie gut. Ich habe ihre Gedanken als sehr bereichernd und reflektiert empfunden und kann euch ihr Tagebuch somit nur empfehlen. “Das ist die Gefahr: dass am Ende alle so erschöpft sind von den ökonomischen Verlusten und demokratischen Zumutungen, dass unsere Gesellschaften einfach wieder blind zurück in die falsche Spur springen, ohne etwas zu lernen aus dieser pandemischen Erfahrung, ohne etwas zu verändern an der Art, wie wir leben und wirtschaften. Dabei hätten wir jetzt genügend Hinweise darauf, was unverzichtbar und was möglich ist, wenn nur der politische Wille da ist.” (S. 266)