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gwyn

Posted on 7.5.2021

«Wer heute nach Penzberg kommt, ahnungslos und ohne von der Mordnacht zu wissen, erlebt eine bayrische Kleinstadt, nur etwa zehn Kilometer entfernt von den Touristenhochburgen Starnberger See und Kochelsee.» Kirsten Boie hat hier ein großartiges Jugendbuch vorgelegt, das sich mit einem Thema beschäftigt, nämlich mit den Morden, die kurz vor Beendigung des Zweiten Weltkriegs stattfanden: Endphasenverbrechen nennt man sie. Ob es sich um desertierende Soldaten handelte, Bürger, die dem Hitler-Regime nicht mehr beugen wollten, es gab allerorts Opfer in den letzten Tagen des Krieges. Die Penzberger Mordnacht ist eins dieser Verbrechen, die selten erwähnt werden. Auch noch heute muss man sich für die deutsche Nachkriegsjustiz schämen, die letztendlich die meisten Nazi-Verbrecher erst gar nicht verurteilte, bzw. sie schnell wieder laufen ließen. «Ja sind Sie denn wahnsinnig bentrott? ... Wie konnten Sie diese Männer einfach so weitermachen lassen?› ‹Ich wollte nichts tun ohne Ihren Befehl, Herr Oberstleutnant.» ... Aber nun hat er ja seinen Befehl, nun steht fest, was zu tun ist.» Ende April 1945 vernahmen die Penzberger Bürger durch den offiziellen Reichs-Radiosender, dass der Krieg zu Ende sei, die Amerikaner in München eingerückt seien und übernommen hätten. Zu diesem Zeitpunkt ist klar, dass die amerikanischen Panzer jeden Tag in die Stadt einrollen werden. Nun versuchten entschlossene Penzberger Bürger, das Heft in die Hand zu nehmen, sich darauf vorzubereiten. Der 1933 aus dem Amt gedrängte ehemalige Bürgermeister Hans Rummer gehört zu ihnen, der eine friedliche Übergabe vorschlägt. Sie verhindern die Flutung des Bergwerks nach dem Nero-Befehl Hitlers und verhindern die Liquidation der Zwangsarbeiter dort. Gleichzeitig rückt ein Trupp deutscher Soldaten ein, die auf dem Durchmarsch nach Tirol sind, um die Alpenfestung zu beschützen, «das Reich zu retten». Ihr Befehl lautet: Kämpfen bis zum letzten Atemzug. Sie könnten einfach weiterziehen. Doch der Oberstleutnant sendete Boten nach München, die mit der Meldung zurückkommen, der Radiosender war lediglich für kurze Zeit von Revolutionären gekapert worden, die alle verhaftet und hingerichtet wurden und er solle die Wehrzersetzer vor Ort exekutieren. So wird der NS-Bürgermeister wieder eingesetzt, die Bürger im Rathaus festgesetzt. In der Nacht werden die 8 Bürger aus dem Rathaus in den Wald gefahren und erschossen. Damit aber nicht genug. Der Werwolf rückte an, die Organisation, die hinter den alliierten Linien Sabotageakte verüben, Fahnenflüchtige und sogenannte Volksfeinde und Wehrzersetzer aufhängen. Diese Leute verlangen vom Bürgermeister die Namen der Kommunisten und Sozialisten vor Ort, Namen von Bürgern, die nicht in die Partei eingetreten sind, die sie dann aufsuchen, aus dem Bett holen und vor dem Rathaus aufhängen. In dieser Nacht verlieren 16 Penzberger ihr Leben, zwei überleben das Massaker. Einen Tag später rücken die Amerikaner ein. «So also ist der Tod. Ist so ganz ohne Würde. Und dann schon der Nächste, der Nächste … der Gustl dreht sich weg, sein Magen will nicht aufhören, kommt nur noch Galle, aber das Würgen bleibt. Er hat sie gekannt, alle drei.» Kirsten Boie wickelt die Geschichte in eine Beobachtung ein. Drei Jugendliche, zwei Jungen, verliebt in ein Mädchen: Marie, Schorsch und Gustl. Schorsch ist 15 Jahre alt, der Sohn des örtlichen Polizeimeisters, er steht den Nazis kritisch gegenüber, auch wenn sein Vater Polizist ist. Gustl ist 16 Jahre alt. Er schämt sich, dass seine Eltern «Rote» sind, will es besser machen, für Führer und Land eintreten, er hat sich den Werwölfen angeschlossen. Maries Vater gehört zu den Bürgern, die sich im Rathaus um den alten Bürgermeister versammeln, der aber kurz die Versammlung verlässt, weil er einen Metzgerladen führt. Als er zurückkehren will, ist das Rathaus von Soldaten umstellt, ein Freund rät ihm, sein Haus über die Hintertür zu verlassen und er versteckt ihn. Der Oberstleutnant gibt einen Exekutionsbefehl, und alle gehorchen trotz Gewissensbisse: militärische Befehlsgewalt im Nationalsozialismus. Schorsch und Marie treffen sich am Waldrand bei Dunkelheit und beobachten zufällig die Erschießung, Gustel ist mitten drin bei den Gräueltaten der Werwölfe. Zappelnde Beine, Knack, das Genick gebrochen. Danach wird Schnaps gesoffen und gelacht. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Die Perspektive hat Kirsten Boie auktorial gesetzt, ein allwissender Erzähler, der zwischen Ereignissen und Personen schwebt, verschiedenen Handelnde in ihren Gedanken zu Wort kommen lässt. Hauptmann Bentrott, der nichts entscheiden will, weil er keine Schuld auf sich laden will. Er weiß, dass die Amerikaner kommen, und darum wird er freundlich sein zu den Aufrührern, bloß nichts selbst entscheiden. Oberstleutnant Ohm soll geradestehen, für das, was jetzt geschehen wird, nicht er, der nur Befehle ausführt. Die Erzähldistanz dieser Novelle ist im Weitwinkel gewählt, die Erzählhaltung ist beobachtend, hat fast etwas von einer Reportage. Mit dieser schnörkellosen Sachlichkeit ist die Geschichte erträglich, löst genügend tiefe Emotionen beim Leser aus. Die Bestie Mensch schlägt zu. Es gibt eine Menge Leerstellen im Text, die die Fassungslosigkeit der Beobachter darstellen, den Leser selbst fassungslos schlucken lässt, damit er seine Beklemmung fassen kann. Der Leser weiß, die Namen sind echt (bis auf die ausgedachten Jugendlichen), die Geschichte ist wahr: reale Geschichte. Das ist klug gewählt, spricht jugendliche Leser ab 14/15 Jahren an. Schon die Art, wie der Text gefasst ist und natürlich der Stoff selbst, ist für Jüngere nicht geeignet. Obwohl dies ein Jugendroman ist, würde ich das Buch als Dokumentation bezeichnen. Das Entsetzen des Lesers geht weiter im Nachwort, wenn er erfährt, dass die meisten Täter aus dieser Nacht entweder gar nicht verurteilt oder freigesprochen wurden. Sie hatten ja NUR Befehle befolgt. «Wie um Himmels willen haben sie weiter zusammengelebt in dieser Stadt nach dem Ende des Krieges: die Witwen und die Waisen der Opfer – und die Frauen und Kinder der Täter?», fragt sich Kirsten Boie im Nachwort dieses Buchs. Die Antwort finden wir im Ort selbst, der keinen Gedenkstein daran erinnern lässt. Versteckt im Wald, dort, wo die Bürger erschossen wurden, steht eine Skulptur. Vergessen, über nichts reden, sich nicht erinnern. Das war der Fluch der Nachkriegszeit. Es waren einfach zu viele beteiligt, als dass man sie aussieben wollte. Zu viel Leid hatten die Nazi-Zeit und der Krieg gebracht. Die Nazis lebten unter ihnen, viele mit der Faust in der Tasche. Man dachte nur noch vorwärts, nach hinten eine kollektive Auslöschung im Gedächtnis. Es ist nun die Aufgabe der Nachkriegsgenerationen, alles offen zu legen, damit ein solches Unrecht nie wieder geschieht! Eine Novelle, ein Drama, das es in sich hat, das ich als Schullektüre empfehle. Wer dieses Buch liest, sollte sich vorher bereits ein wenig über den Zweiten Weltkrieg informiert haben. Es gibt eine Menge Fachbegriffe, die am Ende erklärt werden: HJ, Volksempfänger, Volkssturm, Werwölfe, Leit-Wolf, Gauleiter, Alpenfestung usw. Das hätte ich mir nach vorn gewünscht, denn mit diesen Begriffen können die wenigsten Jugendlichen heute etwas anfangen und es ist ratsam, sich die Vokabeln im Vorfeld anzusehen. Kirsten Boie ist eine der renommiertesten, erfolgreichsten und vielseitigsten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen. Sie wurde 1950 in Hamburg geboren, studierte dort Germanistik und Anglistik. Zwei Semester besuchte sie, gefördert durch ein Auslandsstipendium der Hamburger Universität, die Universität Southampton/Großbritannien. Nach dem ersten Staatsexamen in den Fächern Deutsch und Englisch promovierte sie im Fach Literaturwissenschaft über die frühe Prosa Bertolt Brechts. Sie arbeitete als Lehrerin. 1983 adoptierte sie mit ihrem Mann ihr erstes Kind. Auf Verlangen des vermittelnden Jugendamtes musste sie ihre Berufstätigkeit aufgeben. Inspiriert durch die eigene Situation schrieb sie ihr erstes Kinderbuch «Paule ist ein Glücksgriff». Ihr Debüt wurde ein beispielloser Erfolg (Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis, Buch des Monats der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur in Volkach; Ehrenliste des Österreichischen Staatspreises für Kinder- und Jugendliteratur). Und Kirsten Boie selbst erwies sich als Glücksfall für die deutsche Kinder- und Jugendliteratur. Für ihr Engagement für die deutsche Kinder- und Jugendliteratur wurde ihr 2019 die Hamburger Ehrenbürgerwürde verliehen. Inzwischen sind von Kirsten Boie weit mehr als hundert Bücher erschienen und in zahlreiche Sprachen übersetzt worden, die von ihrer enormen literarischen Vielseitigkeit, großem Einfühlungsvermögen, vor allem aber von ihrem sozialen Engagement Zeugnis geben. 2007 wurde Kirsten Boie für ihr Gesamtwerk mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises ausgezeichnet. 2015 gründet Kirsten Boie die Möwenweg-Stiftung, um Kindern in Swasiland zu helfen.

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