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Erster Satz: «In der Rue de Bretagne waren viele Bistros schon voll mit Gästen, nur der Marché des Enfants Rouges kam eher langsam in Gang; die Fische lagen mit offenen Mäulern auf dem Eisbett, und ein Imbissverkäufer briet einen gigantischen Berg von frisch geschnittenen Zwiebeln in einer großen Pfanne.» Die langjährige Beziehung im Eimer, die Vermittlungsagentur pleite, die Jonas Becker mit der Lebenspartnerin und dem besten Freund gegründet hatte, so schließt er sein Leben in Berlin ab. Voll Enthusiasmus zieht er nach Paris, um seinen einstigen Traum vom Leben als Schriftsteller zu verwirklichen. Ein Verlag hatte ihm den Auftrag erteilt, den 86-jährigen österreichischen Schriftsteller Stein zu interviewen, der sein Leben lang um Anerkennung kämpfte. Jonas soll ein Buch über den Literaten schreiben. Dazu stellt man ihm das kleines Verlags-Appartement in der Rue Oberkampf zur Verfügung. Seine Tage verbringt Jonas mit dem Autor, nachts trifft er sich mit Christine, die er am ersten Abend kennenlernt. Eine Selbstverwirklichung, die nicht so verläuft, wie er gehofft hatte. «Jonas lief dicht an den Hauswänden entlang, so als müsste er sich nah an die Stadt schmiegen, der nun jemand ins Herz geschossen hatte.» Die «Rue Oberkampf», klingt so gar nicht französisch; sie ist nach Christophe-Philippe Oberkampf, einem französischen Industriellen mit deutschen Wurzeln im späten 18. Jahrhundert benannt, die im 11. Arrondissement von Paris liegt. Mitten im Zentrum der pulsierenden Stadt. Kaum in Paris angekommen, erlebt Jonas das Desaster: 7. Januar 2015 - Attentat auf Charlie Hebdo. Es ist sein erster Morgen in dieser Stadt. Zunächst verfolgt Jonas die Berichterstattung sehr genau, doch nach der ersten Neugier verebbt sein Interesse. Plötzlich sind alle «Charlie», aber alles läuft weiter wie zuvor. Jonas betrachtet den Anschlag völlig distanziert. Der Schriftsteller Richard Stein zeigt sich als knorriger Alter, bestimmend und übergriffig. Er dominiert, sagt, wo es im Interview langgeht. Auch bucht er auch einen Flug für sich und Jonas in die USA, um seinen drogenabhängigen Sohn zu suchen, der anscheinend in Schwierigkeiten steckt. Die Reise ist bloß eine Nebensächlichkeit in der Geschichte, ebenso der Besuch eines Freundes in Paris, Dinge die Jonas nicht berühren, nehmen keinen Raum ein. «Die Stadt, das Land, die ganze Welt verfolgte diese zwei oder drei Männer, die mit ein paar Kalaschnikow-Salven die Zivilisation zum Krüppel geschossen hatten. Die Gewalt machte aus einem Volk ein anderes Volk. Sie stellt die Angst an die Stelle der Sicherheit.» Es gibt unendlich viele Beschreibungen der Pariser Straßen, Restaurants und Cafés, Auseinandersetzungen seitens Jonas mit Schriftstellern – das beginnt bereits mit dem Umzug, dem Aussortieren der Bücher, die er mitnehmen möchte, nur zwei Kisten voll aus dem riesigen Sortiment seiner Regale. Corinne ist die Aussortierte, Christine die viel jüngere Studentin, mit der der Mittvierziger eine Beziehung in Paris anfängt, die aber selbst keine Rolle spielt, lediglich als Transmitter zur Bevölkerung dient. Frauen sind Nebensache, präsent die Männer in diesem Roman. Überhaupt zeigt sich Jonas als desinteressiert an anderen Menschen, er ist nur mit sich selbst beschäftigt. Seine Rue Oberkampf, die Restaurants, Bistros und Cafés, seine Bücher. Der Roman ist ein Hoch auf die Pariser*innen, auf ihre Bars und auf Restaurantterrassen, ein Verriss von Berlin. Er beschreibt die Pariser*innen, die auch nach dem Anschlag ihren Lebensstil weiter inszenieren, gerade deshalb: Wir lassen uns keine Angst machen! Christine, die Studentin, öffnet Jonas mit ihrem Blick auf die Banlieues die Augen, zeigt ihm die heruntergekommene Hochhaussiedlungen in der Vorstadt, in der meist Migranten wohnen, arm, von Perspektivlosigkeit geprägt. Das hat rein gar nichts mit dem 11. Arrondissement gemeinsam. Und so entwickelt Jonas eine gewisse Sympathie zu den Terroristen, ein Verständnis für ihr Handeln. Stein wirft Jonas irgendwann vor, dass er ein Pragmatiker sei, der sich nichts traut. Sein Leben bestehe aus Kompromissen. Er habe Schriftsteller werden wollen, aber nie den Schritt gewagt. Auch mit diesem Buch über Stein habe er nicht den Sprung geschafft, lediglich eine Auftragsarbeit angenommen, die ihn in der Komfortzone hält. «Jonas spürte etwas Kaltes seine Brust heraufkriechen, ein Unbehagen vor der Menge und ihren Ritualen, die ihm eigenartigerweise nicht weniger barbarisch vorkamen als die Hass-Inszenierungen der Mörder. Eigentlich sollte man doch wütend sein, dachte Jonas. Wie konnte man anders empfinden als heillose Wut auf die drei Schweinehunde, die zwölf Franzosen mit ihren Kalaschnikows die Köpfe zerballert hatten. Aber diese Milde, diese zurückgenommene, als Ohnmacht inszenierte Fassungslosigkeit, war auch wieder so ein nationaler Snobismus. Gleich würden sie auch wieder singen, dachte Jonas.» Auf der einen Seite hat mich die Sprache gepackt, einige Passagen sind genial geschrieben. Es macht Spaß, diese Stellen zu lesen. Hilmar Klute ist ein guter Beobachter und er bringt dies auch noch treffend und geschliffen zu Papier. Die Dialoge sind klasse und gewisser Humor ist diesem melancholischen Roman zur Selbstverwirklichung nicht abzuschreiben. Darum lohnt es sich, das Buch zu lesen. Aber andererseits war es für mich ein Oberkampf, das Lesen immer wieder aufzunehmen, da ich die Geschichte an sich recht langweilig fand. Auch die Figuren konnten mich nicht packen, sie blieben mir fern, bedeutungslos. Hilmar Klute ist Streiflicht-Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Er hat einige Bücher veröffentlicht, darunter den zeitkritischen Essay Wir Ausgebrannten (2012). 2015 erschien bei Galiani seine »ebenso kluge wie gründliche und liebevolle« (FAZ) Ringelnatz-Biografie War einmal ein Bumerang. Sein literarischer Debütroman Was dann nachher so schön fliegt erschien 2018 und wurde von der Presse hochgelobt; 2020 folgte der Roman Oberkampf. Hilmar Klute lebt in Berlin.