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sabinescholl

Posted on 20.4.2021

Die Vergangenheit erforschen, heißt mit Toten reden, schreibt der Historiker Karl Schlögel. In diesem Sinne greift die Schweizer Autorin Dana Grigorcea mit ihrem Roman „Die nicht sterben“ Geschehnisse um die Legende von Dracula auf und nimmt anfangs stilistische Anleihen bei Bram Stokers berühmter Darstellung. Eine namenlose rumänische Erzählerin verbringt den Sommer in einem nach der Revolution von 1989 wiedererlangten Landhaus. Wie sich die bürgerlichen, aus der Stadt angereisten Familienangehörigen gegenüber Geschmack und Bräuchen der ländlichen Unterschicht abgrenzen, ist mit vielen Details anschaulich und witzig geschildert. Nur der Ich-Erzählerin ist es möglich, beide Welten zu betreten: Mit den Dorfkindern hat sie früher gespielt, als Heranwachsende hatte sie Affären mit einheimischen Männern. Dann wird sie immer mehr vom regionalen Aberglauben angesteckt. Für die in Paris ausbildete Malerin lösen sich allmählich die Grenzen zwischen Klassen und Wirklichkeitsebenen auf. Als in der Familiengruft Zeichen des Drachenordens gefunden werden, dessen Mitglied Graf Dracula gewesen war, und damit die Verwandtschaft der Familie zu diesem bewiesen scheint, will der geschäftstüchtige Bürgermeister das Grab für touristische Zwecke nützen. Den Plan, einen Dracula-Erlebnispark in Transsilvanien zu errichten, hatte es vor Jahren tatsächlich gegeben, und dass die Figur in der Region als Touristenmagnet herhalten muss, ist bekannt. Auch sonst scheint Rumänien seinem Schicksal, ausgebeutet und ausgesaugt zu werden, nicht zu entkommen. Während der kommunistischen Diktatur galt vor allem Ceausescu als Vampir, der den Einwohnern die Lebensenergie und dem Land die Ressourcen raubte. Im Roman wird wiederholt auch die österreichische Holz-Firma Schweighofer erwähnt, deren Rohstoffe tatsächlich z.T. aus geschützten Wäldern Rumäniens geschlagen wurden. Und so wie sie profitieren viele ausländische Unternehmen, von den korrupten Verhältnissen im Land. Einige Österreicher beteiligen sich sogar als Jagdgäste des Bürgermeisters an der Dracula-Inszenierung. Die Erzählerin hingegen beschäftigt sich ausführlich mit der historischen Vorlage des Blutfürsten, berichtet seine Lebensgeschichte samt politischem Umfeld, wie z.B. die Nähe des Herrschers zum osmanischen Reich. Sie geht den Ursprüngen des rumänischen Volksglaubens an Vampire nach, beschreibt ausführlich die Methode des Pfählens, die der Herrscher als Strafmaßnahme bevorzugte. Außerdem klärt sie die Entstehung von Stokers Roman, welcher in kolonialistischer Manier eine Klitterung verschiedenster Einflüsse darstellt und eher zufällig in Transsilvanien situiert wurde. Nach und nach wird die Besucherin auf Sommerfrische jedoch von diesen vergangenen Vorstellungen befallen und einer rätselhaften Verwandlung unterworfen. Offene Gräber, Bisswunden, unheimliche Schreie, Schatten, Knochensammeln, Mord und nächtliche Flugversuche vervollständigen den Grusel. Bei Elfriede Jelinek ist Vampirismus auch als Metapher für die Kunst zu verstehen, die das Leben anderer aussaugt, um weiterexistieren zu können. Grigorceas Erzählerin hingegen begleicht vor allem ein paar alte Rechnungen und lebt ihr sexuelles Begehren aus. Immer wieder verweist sie auf die Unzuverlässigkeit ihrer Erinnerungen, will die Geschehnisse „wie ein Tableau“ darstellen. Dass sie Malerin ist, passt also. Zum Schluß heißt es dann überraschend wie lapidar: „Wie ich aufhörte, ein Vampir zu sein, weiß ich nicht“. So manches in diesem Vorhaben, die Vergangenheit zum Sprechen zu bringen, bleibt demnach ungelöst.

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